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STANDPUNKT/028: Anspruch und Wirklichkeit kirchenkritischer Organisationen (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 2/2011

Klein - aber einflussreich
Anspruch und Wirklichkeit kirchenkritischer Organisationen

Von Andreas Fincke


In den letzten zehn Jahren haben freidenkerische, humanistische und atheistische Organisationen die Zahl ihrer Mitglieder nur unwesentlich steigern können. Eine zu vernachlässigende Größe ist der Verbandsatheismus deswegen nicht. Durchaus unterschiedliche Anliegen werden sehr geschickt in der Gesellschaft positioniert.


Die Szene der freidenkerischen Organisationen in Deutschland ist verwirrend und selbst für Insider nur schwer überschaubar. So gibt es eine Fülle regionaler Initiativen und kleiner Zirkel, aber auch vergleichsweise einflussreiche Organisationen wie den "Humanistischen Verband Deutschlands" und die "Giordano Bruno Stiftung". Über die Organisationsgrenzen hinweg findet man freundschaftliche Beziehungen und Doppelmitgliedschaften, aber auch Animositäten und deutliche strategische Differenzen.

Beflügelt wird die Szene durch die massiven Säkularisierungs- und Entkirchlichungsprozesse der Gegenwart. Interessiert nimmt man hier zur Kenntnis, dass die Gruppe der Konfessionslosen die am schnellsten wachsende weltanschauliche Orientierung in Deutschland darstellt. Da schließlich auch Missbrauchsvorwürfe und andere Ereignisse den Ruf der Kirchen beschädigen, könnte man erwarten, dass die freidenkerischen und säkularen Organisationen nennenswerten Zulauf verzeichnen. Aber dem ist nicht so. In den letzten zehn Jahren haben alle Organisationen zusammen die Zahl ihrer Mitglieder nur unwesentlich steigern können. Sie liegt nach wie vor bundesweit bei etwa 15.000 bis höchstens 20.000. Damit scheint der Verbandsatheismus auch weiterhin eine zu vernachlässigende Größe zu sein. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Denn trotz der bescheidenen Mitgliederzahl gelingt es den verschiedenen atheistischen, freidenkerischen und humanistischen Organisationen, ihre Anliegen geschickt in die Gesellschaft zu tragen. Sie sind klein - aber einflussreich.


"Freidenkerischer Religionsunterricht" in Berlin

Das wird am Berliner Religionsunterricht deutlich. In der Bundeshauptstadt ist der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach, sondern nur ein freiwilliges Angebot der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Mehr noch: In Berlin gibt es, nahezu einmalig im Bundesgebiet, ein Konkurrenzfach zum Religionsunterricht. Aus den Wurzeln der Freidenker-Bewegung ist der Weltanschauungsunterricht des Humanistischen Verbands Deutschlands (HVD), die "Humanistische Lebenskunde", hervor gegangen. Man könnte, auch wenn das seltsam klingt, dieses Fach als "freidenkerischen Religionsunterricht" apostrophieren.

Dieses Unterrichtsfach hat in Berlin eine längere Tradition. Es wurde 1918 als Alternative zum Religionsunterricht erstmals eingeführt. Nach einer wechselvollen Geschichte mit zeitweiligen Verboten konnten die Freidenker Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts im damaligen Westteil der Stadt das Fach neu etablieren. Bis 1989 führte die Humanistische Lebenskunde jedoch ein Schattendasein mit allenfalls 1000 Teilnehmern pro Schuljahr. Erst mit der Wiedervereinigung gewann das Unterrichtsfach zunehmend an Bedeutung.

Inzwischen liegen die aktuellen Zahlen für das laufende Schuljahr vor. Derzeit nehmen 15,56 Prozent der Schüler (49.813) am Humanistischen Lebenskundeunterricht teil. Es lohnt ein Vergleich: So besuchen 25,12 Prozent (80.393) der Kinder in Berlin den evangelischen Religionsunterricht sowie 7,82 Prozent (25.021) den katholischen Unterricht. Insgesamt nimmt also nur jeder zweite Schüler an einem freiwilligen Religions- oder Lebenskundeunterricht teil. Während die beiden großen Kirchen eine geringe Abnahme ihrer Teilnehmerzahlen vermerken, weist der HVD auf eine leichte Steigerung hin.

Diese Steigerung ist umso beachtlicher, als die absoluten Schülerzahlen aufgrund der demografischen Entwicklung rückläufig sind. Wenig verwunderlich ist, dass der Lebenskundeunterricht in den östlichen Stadtteilen überproportional stark besucht wird. Spitzenreiter ist dabei der Bezirk Pankow mit einer Teilnahmequote von 28,14 Prozent. Der katholische Religionsunterricht wird in diesem vergleichsweise bürgerlichen Bezirk von weniger als 5 Prozent der Schüler besucht. Es ist hier nicht der Ort, die Motivation der Eltern, ihre Kinder in den Lebenskundeunterricht zu schicken, genauer zu untersuchen. Eine gewisse Reserviertheit den Kirchen und ihrem Religionsunterricht gegenüber wird man jedoch kaum leugnen können. Erstaunlich sind die Zahlen, zumal, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der HVD in Berlin nur knapp 5.000 Mitglieder hat. Er erreicht also allein mit seinem Weltanschauungsunterricht ein Vielfaches seiner Mitgliederbasis.

Es liegt auf der Hand, dass man sich auf diesem Erfolg nicht ausruht. Daher bemüht sich der HVD seit einigen Jahren, sein Unterrichtsfach auch in anderen Bundesländern zu etablieren. Erfolgreich war eine Klage in dieser Sache bereits 2005 vor dem Brandenburger Verfassungsgericht. Seit 2007 führt der HVD das Fach in diesem Bundesland schrittweise ein. Derzeit sind die Teilnehmerzahlen zwar noch bescheiden, aber eindeutig wachsend. In Nordrhein-Westfalen, Bayern und Niedersachsen bereitet man die Einführung des Unterrichtsfachs ebenfalls vor. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis der kirchliche Religionsunterricht bundesweit neue Konkurrenz bekommt.

Der HVD wurde Anfang 1993 als Dachverband säkularer Organisationen gegründet. Er ist zwar aus verschiedenen freigeistigen Verbänden (wie beispielsweise aus den Westberliner Freidenkern) hervorgegangen, er hat sich jedoch inzwischen in zentralen Fragen weit von traditionellen Freidenkerpositionen entfernt. Denn traditionell fordern Freidenker eine entschiedene Trennung von Kirche und Staat, die Abschaffung des Religionsunterrichts und des Einzugs der Kirchensteuer durch die Finanzämter, die Auflösung der Theologischen Fakultäten, ein Ende der kirchlichen Seelsorge bei der Bundeswehr und vieles mehr.

Der HVD hingegen schreibt einige dieser Forderungen zwar auch in seine politischen Programme, er reklamiert auf dem Wege dorthin jedoch alle diese Privilegien "vorerst" auch für sich. Das entscheidende Argument lautet: Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft gemäß Artikel 4 Abs. 1 Grundgesetz und besonders Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 7 Weimarer Reichsverfassung. Diese strategische Neuausrichtung erweist sich bisher als ein überaus kluger Schritt des HVD. Er ist damit keine atheistisch/freidenkerische Organisation mehr, die sich über ein "Dagegensein" positioniert, sondern der Verband versteht sich selbst als Organisation einer humanistischen Weltanschauung mit eigenen Werten und Zielen. Das Schlüsselwort "humanistisch" ist in diesem Kontext also nicht im strengen Sinne eines klassischen Humanismus zu verstehen, sondern vielmehr als humanistisch-diesseitig.

Mit dieser Neupositionierung hat der HVD in den knapp 20 Jahren seines Bestehens erstaunlich viel erreicht. So unterhält er in Berlin zahlreiche Gesundheits- und Sozialprojekte wie Einrichtungen für betreutes Wohnen, mehrere Hospize, Einrichtungen zur Schwangerschaftskonfliktberatung. Darüber hinaus ist der Verband Träger von 24 Kindertagesstätten und Familienzentren in der Stadt. In Stuttgart gibt es derzeit heftigen Streit in der Lokalpolitik um ein Hospiz, welches der dortige HVD eröffnen möchte. Dass die Einrichtungen des HVD die Qualitätsstandards erfüllen, wurde im Sommer 2010 deutlich: Das interkulturelle Hospiz des Berliner HVD wurde als zweiter Bundessieger beim Integrationswettbewerb der Stiftung "Bürger für Bürger" ausgezeichnet.


Auszeichnung für interkulturelles Hospiz

Der HVD hat eine eigene Patientenverfügung erarbeitet, in der Wünsche und Behandlungsziele für kritische beziehungsweise todesnahe Situationen dokumentiert werden. Der Verband unterstützt beim Ausfüllen und bei der Hinterlegung dieser Willenserklärung. Wie man hört, gewinnt der HVD durch dieses Engagement vergleichsweise viele Mitglieder. Die Arbeit firmiert unter dem attraktiven Namen "Bundeszentralstelle Patientenverfügung". Auch hat man sich die lukrative Homepage "www.patientenverfuegung.de" sichern können.

Eine gewisse Tradition haben im HVD auch die Jugendweihen, die hier Jugendfeiern heißen. Mit jährlich etwa 10.000 Jugendfeiern überwiegend in Berlin, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt ist der HVD zwar nicht der größte Anbieter, aber einer der weltanschaulich ambitionierten. Inzwischen gibt es auch in den alten Bundesländern (zum Beispiel in Dortmund, Wuppertal, Nürnberg, Hannover) eine wenn auch bescheidene Jugendfeier-Tradition. Die Bemühungen um weitere Rituale wie "Namensweihe" und eine Feier zur weltlichen Eheschließung sind bisher jedoch wenig erfolgreich.

In den letzten Jahren bemüht sich der HVD verstärkt um die Gründung eigener Schulen. In Fürth wurde 2008 eine Grundschule in freier Trägerschaft als Weltanschauungsschule nach Art. 7 Abs. 5 Grundgesetz eröffnet. In Bremen gibt es derzeit heftige juristische Auseinandersetzungen um die Gründung einer solchen Schule. Der HVD wird seine Bemühungen um Schulgründungen weiter verfolgen. Wie man hört, gibt es bereits Pläne, eigene Gymnasien aufzubauen.

Auch die Erwachsenenbildungsarbeit des HVD hat in den letzten Jahren deutlich an Profil gewonnen. Neben einem Institut zur Ausbildung der Lebenskundelehrer wurde bereits im Sommer 1997 in Berlin die erste Humanistische Akademie als Studien- und Bildungswerk eröffnet. Die Akademie, so hieß es damals, sollte der "Diskriminierung der Konfessionsfreien im Bildungssektor" entgegenwirken und als Pendant zu den kirchlichen Akademien ausgebaut werden. 2005 folgte eine solche Humanistische Akademie in Bayern, 2008 in Niedersachsen und 2009 in Thüringen. Sicherlich können diese Akademien noch nicht mit kirchlichen Einrichtungen verglichen werden, die über eigene Tagungszentren und Bettenhäuser verfügen, aber der Anfang ist gemacht.


Religionskritische Aktionen der "Giordano Bruno Stiftung"

Bundesweit tätig ist inzwischen die 2006 gegründete Humanistische Akademie Deutschland. Sie ist seit Anfang diesen Jahres "anerkannter Zuwendungsempfänger" der Bundeszentrale für politische Bildung. Hinter dieser Formel verbirgt sich die Aufnahme der Akademie in den Kreis der offiziellen Partner der Bundeszentrale und eine beachtliche ideelle Aufwertung. Die HVD-Bundesakademie arbeitet damit gleichberechtigt neben vielen evangelischen und katholischen Akademien. Sie organisiert zahlreiche eigene Tagungen sowie Kooperationsveranstaltungen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und anderen Akademien.

Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die wissenschaftliche Arbeit des Kulturwissenschaftlers und Akademiedirektors Horst Groschopp. Er gibt seit Jahren eine Fülle von Publikationen heraus, mit welchen er einen modernen Humanismus theoretisch fundieren möchte. Die Texte bewegen sich auf hohem wissenschaftlichen Niveau. Seit 2010 gibt Groschopp im Namen der Humanistischen Akademie Deutschland eine eigene Schriftenreihe im Alibri Verlag (Aschaffenburg) heraus. Sie steht neben den Schriftenreihen der Katholischen Akademien Bayern und Berlin. Auch im Internet sind zahlreiche Diskussionsbeiträge und Texte zum Humanismus zu finden, zumal im Herbst 2010 die Online-Zeitschrift "humanismus aktuell" eröffnet wurde (Vgl. www.humanismus-aktuell.de).

Erstaunlich rege ist auch die 2004 im Hunsrück gegründete "Giordano Bruno Stiftung" (GBS). Sie möchte "eine tragfähige säkulare Alternative" zu den bestehenden Religionen entwickeln und dieser "gesellschaftlich zum Durchbruch zu verhelfen". In einer Selbstdarstellung heißt es, man verstehe die eigene Position als "naturalistisch" in dem Sinne, dass "weder Götter noch Geister noch Kobolde oder Dämonen in die Naturgesetze eingreifen". Innerhalb kurzer Zeit hat sich die "Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung" (Selbstdarstellung) geschickt positioniert und erheblich an medialem Einfluss gewinnen können. Zahlreiche religionskritische Aktionen mit zum Teil derber Polemik wurden hier erdacht wie "Glaubst du noch oder denkst du schon?" oder die bizarre Idee zur "Umwidmung" des Feiertags "Christi Himmelfahrt" in einen "Evolutionstag". Auch die "kritische Islamkonferenz" und die islamkritische Aktion "Wir haben abgeschworen!" werden von der "Giordano Bruno Stiftung unterstützt".

Auffällig ist eine gewisse Doppelstrategie der Stiftung. So wirkt man in die breite Öffentlichkeit mit polemischem Atheismus und effektheischenden Albernheiten, im akademischen Kontext schmückt man sich mit seriösen Namen. Schon länger gehören dem Beirat der Stiftung einige bedeutende Persönlichkeiten wie Hans Albert, Norbert Hoerster, Ulrich Kutschera sowie Wolf Singer an. Vor einiger Zeit hat Ingrid Matthäus-Maier, viele Jahre stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, ebenfalls ihre Mitarbeit erklärt.

Über diesen Kontakt wurde von der GBS auch die (vorerst gescheiterte) Gründung eines "laizistischen Arbeitskreises" in der SPD lanciert (vgl. HK, Januar 2011, 11 ff.). Im Hintergrund stand die GBS auch bei den Arbeiten von Carsten Frerk an seinem jüngsten Buch "Violettbuch Kirchenfinanzen - Wie der Staat die Kirchen finanziert" sowie bei der begleitenden Pressekampagne.

Das Engagement von Frerk bezüglich einer ersatzlosen Ablösung aller Staatsleistungen an die Kirchen sieht der HVD übrigens kritisch. In einer Stellungnahme plädiert er zwar ebenfalls für eine Ablösung der Staatsleistungen, die auf der Basis des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 gezahlt werden, mahnt jedoch ausdrücklich die Beibehaltung der Staatsleistungen an, die "die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften als ausführende Organe gesellschaftlicher Wohlfahrtsaufgaben oder pädagogischer Maßnahmen erhalten, (denn diese) erfahren ihre Rechtfertigung aus dem gegenwärtigen Engagement dieser Organisationen. Hier Kürzungen oder gar Streichungen zu verlangen, ist falsch." Mit anderen Worten: In dieser Frage gibt es nennenswerte Differenzen zwischen der GBS und dem HVD. Weit hat sich letzterer von alten Freidenkerpositionen entfernt und setzt jetzt entschieden auf das Argument der Gleichbehandlung von Religion und Weltanschauung. Die politischen Voraussetzungen und das gesellschaftliche Klima in Deutschland bieten dafür einen günstigen Rahmen.


Ein reges Internet-Engagement

Auch im Internet sind die humanistisch-atheistischen Organisationen rege. Zu nennen sind drei besonders einflussreiche Seiten. Unter www.hpd-online.de findet man täglich aktualisierte Informationen des Humanistischen Pressediensts (hpd). Dieses Portal präsentiert aufklärerische, humanistische und freigeistige Positionen, damit diese "in der Politik und den Medien größere Beachtung finden". Der hpd will konfessionsfreien Menschen "eine Stimme geben". Darüber hinaus versteht man sich als "Plattform für das breite Spektrum säkularer Bestrebungen im gesamten deutschsprachigen Raum". Dieser Pressedienst ging bereits im August 2006 online. Er entstand damals auf Initiative der GBS und des HVD. Nach inhaltlichen Differenzen hat der HVD im Juli 2009 seine Mitarbeit im Trägerverein beendet. Gegenwärtig sind sieben zum Teil kleinere, säkulare Organisationen (Alibri-Verlag, Bund für Geistesfreiheit Augsburg, Bund für Geistesfreiheit München, Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, Jugendweihe Deutschland usw.) auch weiterhin an dem Projekt beteiligt.

Etwas weniger einflussreich, aber dennoch nicht zu unterschätzen ist "www.wissenrockt.de" Hier findet man seit Februar 2010 ein privat betriebenes und kommerziell arbeitendes "Magazin für junge Humanistinnen und Humanisten". Dieses als Jugendseite konzipierte Informationsportal ist bemüht, "die alltägliche Dominanz und unkritische Übernahme von religiösen Ideen (...) durch eine Darstellung säkularer, nichtreligiöser oder aufgeklärter Alternativen in Frage zu stellen". Gegründet wurde das Portal von Personen aus dem Umfeld von GBS und HVD, es ist jedoch keine offizielle Aktivität.

Unter "www.fowid.de" findet man das Portal einer "Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland" (Fowid), die ebenfalls ein Projekt der Giordano Bruno Stiftung ist. Seit 2005 wird hier eine erstaunliche Fülle von Daten und Texten zu Themen wie Kirchenein- und -austritten, Wählerverhalten, Glaubensfragen, Kirchensteuern, Sterbehilfe und vielem anderen mehr zusammengestellt. Ein deutlicher Schwerpunkt bei Informationen, die im weiteren Sinne kirchen- und religionskritisch sind, ist unübersehbar. Für die nächsten Monate hat man weitere Datenblätter zu Fragen der staatlichen Gelder für die Kirchen angekündigt. Aus aktuellem Anlass dürfte man sich im Juni mit dem evangelischen Kirchentag in Dresden beschäftigen und die Zuwendungen von Stadt und Land kritisch würdigen. Spätestens bei diesem Thema merkt man, dass Carsten Frerk, Autor des genannten Buchs zu den Kirchenfinanzen, verantwortlicher Redakteur bei Fowid ist.


Fürsprecher der Konfessionslosen?

Fowid ist es gelungen, sich als Informationsportal bei staatlichen Behörden und Journalisten zu etablieren. Die täglichen Zugriffszahlen sind erstaunlich hoch, das Material ist meist gut und attraktiv aufgearbeitet. Wer genau hinsieht, wird jedoch merken, dass die Portale nur Informationen liefern, die für die Kirchen unerfreulich sind. So sucht man Zahlen über die Mitgliederentwicklung der säkularen Organisationen vergebens, Kirchenaustrittszahlen findet man zur Genüge. Die drei Portale sind nicht journalistisch unabhängige, sondern interessengeleitete Initiativen.

Wie beschrieben, gibt es in der Szene disparate Positionen. Einige wollen Kirchenkritik und Atheismus betreiben, um so die Plausibilität religiöser Weltdeutung zu untergraben. Andere wollen an die alltägliche Religionslosigkeit anknüpfen. Sie haben sich von Kirchenkritik verabschiedet und sehen ihre eigentliche Aufgabe darin, sich als Fürsprecher der Konfessionslosen zu profilieren. Dieses Ansinnen ist kühn, weil man gar nicht weiß, was die Konfessionslosen denken beziehungsweise glauben. Aber gerade weil diese Zielgruppe diffus ist, wird sie sich gegen Vereinnahmungsbemühungen durch Konfessionslosenverbände kaum wehren können.

Richtig beobachtet ist zweifellos, dass der polemische und aggressive Atheismus zwar medienattraktiv ist, aber niemanden umwirbt und zur Mitarbeit anregt. Mit anderen Worten: Der aggressive Atheismus wärmt die Menschen nicht und bietet keine Lebenshilfe. Der Atheismus beziehungsweise der (freidenkerisch inspirierte) Humanismus taugt als Alternative zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften nur, wenn er bei der Gestaltung und Bewältigung des Lebens hilft - also Wendepunkte wie Geburt ("Namensweihe"), Adoleszenz ("Jugendweihe"), Eheschließungen, Beerdigungen, Trauerfälle, ethische Fragen am Lebensende (beispielsweise Patientenverfügungen) gestalten hilft.


Ein neuer Humanismus und eine säkulare Ethik

Daher gibt es im Bereich der freigeistigen beziehungsweise humanistischen Bewegungen immer mehr Bemühungen, einen neuen Humanismus und eine säkulare Ethik zu begründen. Indem man neue Formen humanistischer Sozialarbeit entwickelt und diese professionell gestaltet, so die Erwartung, kann man vielen kirchenfernen Menschen eine Heimat geben und zu einer ernsthaften Konkurrenz für die Kirchen werden. In besonderer Weise hat sich der HVD dieser Aufgabe verschrieben.

Horst Groschopp beschreibt den HVD-Humanismus auch nicht mehr als Ausdruck von Konfessionslosigkeit, sondern er reklamiert für den Humanismus den Charakter einer Konfession. Es liegt auf der Hand, dass das in der Szene umstritten ist, da traditionelle atheistische Bewegungen ja gerade alles "Konfessionelle" ablegen wollten. Doch Groschopp akzentuiert anders: "Die Wahrheit aussprechen bedeutet, sich zu bekennen (...) Eine Weltanschauungsgemeinschaft Humanistischer Verband, die den Anforderungen des Grundgesetzes genügen und mit den Religionsgesellschaften gleichgestellt sein will, ist ohne Bekenntnis zum Humanismus nicht möglich. Dabei ist es nebensächlich, ob diese öffentlich abzulegende Gewissheitsbeteuerung 'Konfession' genannt wird. Wenn aber christliche Religionen in Deutschland konfessionell und mit 'hinkender Trennung' von Staat und Kirche organisiert sind, kann dies dem HVD nicht gleichgültig sein, schon weil das Religions- und Weltanschauungsrecht dadurch bestimmt wird."

Unbeschadet solcher Neupositionierungen bleibt für die säkularen Verbände das Problem der wenigen Mitglieder. Wenn der Eindruck nicht täuscht, dann hat man sich damit arrangiert. In einer Zeit, in der Kirchen, Gewerkschaften und Parteien massiv Mitglieder verlieren, ist es schwer, neue Vereinsmitglieder zu binden. Auch deshalb organisiert sich die GBS als "Denkfabrik", als relativ unverbindliches Forum. Ebenso zeigen die Aktivitäten im Internet, dass man sich zwar beteiligt, aber nicht festlegt.

Dennoch fällt auf, dass der Verbandsatheismus eher in jenen Regionen Deutschlands Mitglieder findet, wo die Kirchen vergleichsweise stark sind, und mitgliederschwach bleibt, wo auch die Kirchen schwach sind. So gibt es im Osten Deutschlands (mit Ausnahme Berlins) nur marginale Kräfte. Die bescheidenen Mitgliederzahlen säkularer Verbände in Deutschland sind nicht unbedingt eine gute Nachricht für die Kirchen; bei genauer Betrachtung sind sie auch ein Spiegelbild wachsender Bedeutungslosigkeit von Kirche und Religion. Man reibt sich immer weniger an Kirche und Religion und sieht kaum Anlass, sich engagiert dagegen zu positionieren.

Hier finden wir das eigentliche Problem der aktuellen Konfessionslosigkeit, die ohne jegliche Frage nach Gott auskommt. Im Lebenshorizont vieler Menschen kommt Gott als Option gar nicht mehr vor; alle Fragen des Lebens werden mit diesseitsorientiertem Pragmatismus ausschließlich innerweltlich erörtert. Die Kirchen finden daher immer schwerer Anknüpfungspunkte für ein Gespräch. Umso mehr verwundert, dass die beiden großen Kirchen der Untersuchung der Konfessionslosigkeit so wenig Aufmerksamkeit widmen. Zwar gehört es inzwischen zum guten Ton, bei allfälligen Anlässen Betroffenheit zu artikulieren, aber wirkliches Engagement ist nicht zu erkennen. Überfällig wäre eine (ökumenische?) Arbeitsstelle zur Untersuchung der Konfessionslosigkeit. So wäre zu klären, mit welcher Sprache man diese Menschen erreicht und wie man das Geheimnis des Glaubens in religiös sprachloser Zeit neu elementarisiert. Die organisierten Konfessionslosenverbände und Kirchenkritiker haben viel schärfer als die Kirchen erkannt, dass sie diese Gruppe umwerben müssen.


Der promovierte Theologe und evangelische Pfarrer Andreas Fincke (geb. 1959) war von 1992 bis 2007 wissenschaftlicher Referent an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), dann theologischer Referent für Grundsatzfragen im Konsistorium der EKBO. 2008 bis 2010 persönlicher Referent des Berliner Senators für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Religions- und Weltanschauungsfragen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 2, Februar 2011, S. 77-82
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2011