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BERICHT/089: Die Rolle des politischen Engagements in der Kunst (Freidenker)


Freidenker Nr. 2-12 Juli 2012 - 71. Jahrgang

Die Rolle des politischen Engagements in der Kunst

Von Daniel Osorio

"Mutiger Gesang wird immer das neue Lied sein"
(Victor Jara, Manifesto)



Lange wurde über das ethische und ästhetische Ansehen der politisch engagierten Kunst heiß diskutiert, beispielhaft in Chile, wo sich eine sehr große kulturelle Bewegung mit sozialer Bedeutung entwickelte. Ihre ästhetische Stellungnahme kommt mit jener Perspektive in Konflikt, die den historischen Kontext, die Ursprünge und Entstehungselemente der Kunst leugnet: Sie habe nichts mit der Realität, einer Zukunftsorientierung zu tun, sie stehe für sich selbst, ohne einen über sich selbst hinausreichenden Zweck.


"Neofolklore" - Mittel der Musikunternehmen

In den 50er Jahren fing in Chile trotz ausgeprägtem Chauvinismus eine neue musikalische Bewegung an zu wachsen, die zum Grundstein des entstehenden politischen Liedes wurde, des "Neuen chilenischen Liedes". Diese ursprüngliche Bewegung wurde "Neofolklore" genannt, und brachte einen neuen Stil chilenischer Volkslieder mit folkloristischen Wurzeln hervor. Die "Neofolklore" war geprägt von einer bäuerlichen, konservativen Gesellschaft mit fast feudalistischer Produktion und spiegelte ländliche Sitten und Gebräuche. Der Journalist und Forscher Fernando Barraza: "Das ist die Orientierung der bürgerlichen Ansicht über die Landbevölkerung. Das heißt: paternalistisch, Patron und landloser Bauer als Bild der Gesellschaft [...] Es ist nur eine Fälschung der Realität."(1)

Die mächtige Tonträgerindustrie machte die Neofolklore für die breite Masse zugänglich und nutzte ihre Popularität für Profitzwecke. Aber welchen Wert hat ein kultureller Bereich, der gemäß der Kapitalbilanz der Musikindustrie manipuliert wird?

Daher fingen einige Künstler an, die Beschränkungen dieser Musik zu überwinden. Patricio Manns und Rolando Alarcón, junge Musiker und Liedermacher, schrieben neue Lieder, deren Texte die soziale Lage der neuen Zeit porträtierten, und genauso arbeiteten wie Violeta Parra, die größte Vertreterin der politischen Kunst in Chile. Obwohl Violeta vor dem Höhepunkt des "Neuen chilenischen Liedes" starb, ist sie eigentlich die Urheberin dieser Bewegung, die die kulturelle Identität des Volkes und seiner politischen Verhältnisse ausdrückte. Ihre vielfältigen musikwissenschaftlichen Forschungen und Kunstwerke waren in der Volkskunst verwurzelt, ihre musikalischen und literarischen Werke enthielten soziale und politische Faktoren, und sie wurden wegweisend für die neue Künstlergeneration.


Das "Neue chilenische Lied"

Violetas Nachkommen, Isabel und Angel, gründeten mit anderen das berühmte Kulturzentrum "Peña de los Parra", in dem sich Künstler für soziale Ansprüche und Gerechtigkeit, und mit ausgeprägt antiimperialistischen Haltungen engagierten. Es sind die 1960er Jahre - dem erschütternden Jahrzehnt mit bedeutendem sozialem, politischem und wirtschaftlichem Wandel. Es ist die Zeit, in der Kuba die Weltpolitik umgestaltet, und ein neues Modell der Entwicklung zum Sozialismus fördert, das viele linke Theoretiker und Intellektuelle begeisterte. Es ist die Zeit, in der Kuba zeigt, dass sich die Welt durch die Befreiung der "verarmten Agrar-Peripherie, die von den mächtigen Ländern ausgebeutet wird und abhängig ist"(2), emanzipieren kann.

Es sind die Jahre, in denen die USA mit ihrer Macht prahlt und einen unverschämten Militär-Interventionismus in der Dritten Welt praktiziert. Sie fördern die "Alliance for Progress" mit der Ausbildung von professionellen Mördern, die Folterungen und Unterdrückung durch die School of the Americas (SOA). Diese politische und soziale Situation in Lateinamerika und weltweit prägt die linke politische Gesinnung in anti-imperialistischer Richtung, und dies wirkt auf die lateinamerikanische Kultur zurück. Nationalistische oder lokalpatriotische Beschränktheit wurde zugunsten brüderlicher und solidarischer Verbindung zu den Völkern in ganz Lateinamerika überwunden.

Anfang der 60er Jahren lernte Victor Jara in Santiago Violeta Parra kennen. Für die künstlerische und politische Entwicklung des Autodidakten, der später an der Universidad de Chile zum Theater-Regisseur ausgebildet wurde, war diese Begegnung von großer Bedeutung. In der "Peña de los Parra" wurde er mit Beifall empfangen, dort nahm er Kontakt mit anderen Künstlern und Intellektuellen auf. Es ist der Ursprung des "Neuen chilenischen Liedes", das ein neues Selbstbewusstsein der chilenischen Bevölkerung ausdrückte, und Victor wird einer seiner wichtigsten Vertreter. Das ist der Augenblick in der Geschichte, den Silvia Herrera als das historische Scharnier, oder den "historischen Knotenpunkt"(3) bezeichnet, und Victor Jara war einer dieser politisch-künstlerischen Avantgardisten, die es schafften, die schwierige Synthese zwischen Tradition und Revolution zu verwirklichen.


Victor Jara

Victors Werk umfasst vielfältige künstlerische Aktivitäten, die systematische Sammlung bäuerlicher Folkloremusik, seine Kompositionen und Texte mit politischem Inhalt, die Arbeit als Schauspieler und Theaterregisseur des Neuen Experimentellen Theaters, die Unterstützung neuer musikalischer Gruppen wie "Quilapayún" und "Inti-Illimani". Die gesamte kulturelle Bewegung in Chile hat er stark beeinflusst.

Als Mitglied der Kommunistischen Jugendorganisation arbeitete er für die Gründung eines neuen Labels, das eine gefährliche Konkurrenz für die Konzerne der Musikindustrie bedeutete, die das kulturelle und musikalische Monopol in Chile hatten. 1967 begannen die Aktivitäten der "Discoteca del Cantar Popular" (Label für den Volksgesang) mit der Unterstützung der Kommunistischen Jugendorganisation. Die DICAP unterstützte das politische Lied sehr tatkräftig. Viele Künstler konnten endlich ihre musikalischen Schöpfungen veröffentlichen, und die Art des Vertriebs in der Musik-Industrie wurde stark verändert. Die Schallplatten der DICAP wurden durch die Mitglieder der linken Parteien und sozialen Organisationen breit verteilt und eroberten so ein Publikum, das zuvor nie Zugang zur Kultur hatte. Die erste Schallplatte war "Für Vietnam" (1968) von Quilapayún unter der künstlerischen Leitung von Victor Jara, und sie wurde ein Verkaufsschlager.

Die Künstler nahmen an dieser großen Kulturbewegung nicht nur teil, um eine politische Meinung zu zeigen, es reichte ihnen nicht, Erklärungen oder Anklagen ohne Konsequenz zu unterschreiben. Die Lage im Land spitzte sich so zu, dass sich alle zu einer politischen Stellung entscheiden mussten. Dadurch wurde das politische Lied zur wahren Stimme der Armen, die immer größeren Zuspruch in der Bevölkerung gewann. Das war der rechtmäßige Versuch der Künstler, die Ungerechtigkeit, das Leiden und das Elend anzuklagen, weil sie der Überzeugung waren, dass die Kunst aus der Realität geboren werde.

Zu Recht erwartet man vom neuen chilenischen Lied auch Avantgardismus in der Musik. Die kulturelle Bewegung und ihre Volksmusiker spürten, dass sie die ästhetischen Perspektiven der Musik erweitern sollten. Viele Musiker hatten keine musikalische Ausbildung, wollten aber in ihren Werken Kritik und politisches Engagement ausdrücken. Sie wollten technische Beschränkungen überwinden, die sie daran hinderten, eine vollständigere und kohärentere musikalische Idee zu entwickeln.(4) Im Kontakt mit Akademikern und Komponisten der chilenischen Universitäten konnte sich empirisches Erlernen durch akademische Kenntnisse erweitern.

Akademische Komponisten wie Luis Advis, Sergio Ortega und Gustavo Becerra-Schmidt waren an der Komposition von Kantaten und anderen Werken für "folkloristische" Ensemble und Volks-Stimmen beschäftigt. Die Musik Victor Jaras wurde oft von Luigi Nono, dem berühmten italienischen Komponisten und Mitglied des ZK der Italienischen Kommunistischen Partei, beeinflusst.

Obwohl die 'Neofolkiore' verfiel, sparte sie nicht mit Kritik an den neuen Volkskünstlern: das Neue Chilenische Lied sei eine Gefahr für die echte Volksmusik, und das politische Engagement sei schädlich für die Kunst...

Kurz vor dem Putsch 1973 schrieb Victor Jara sein "Manifest", was sein politisches, ästhetisches und ethisches Testament sein könnte:

"Ich singe weder des Gesangs / noch der schönen Stimme wegen, / ich singe, weil die Gitarre / Sinn und Verstand besitzt [...] Dass der Gesang seinen Sinn behält, / wenn in den Adern dessen, / der singend sterben wird, / die Wahrheit zuckt. / Weder die flüchtigen Schmeicheleien, / noch der Ruhm im Ausland, / sondern der Gesang der Lerche / bis zum Grund der Erde. [...]"

Victor wurde am 16. September 1973 grausam von unbekannten Offizieren gefoltert und ermordet, seine Leiche auf einem Müllabladeplatz gefunden. Seine Gegner hatten vor ihm und seinen revolutionären Liedern mehr Angst als vor einem bewaffneten Guerillero.


Diktatur: das "Kulturelle Aussterben"

Der Sturz der Regierung Allendes bedeutete Inhaftierung, Unterdrückung und Exil für alle Künstler des Neuen Chilenischen Liedes. Es war das tragische Ende des Traumes von einer besseren Gesellschaft, und auch der kulturellen und künstlerischen Avantgarde in Chile. Kultur-Zentren wurden geschlossen, das Fernsehen war wieder unter Kontrolle der großen Konzerne und der Kirche: die Kultur ist "ausgeschaltet" oder "ausgestorben".

Die Tür für den Einfluss der Nordamerikanischen Kulturindustrie ist wieder geöffnet, diesmal ganz weit.

Nur eine kleine Gruppe von Künstlern des "Canto Nuevo" versucht, Widerstand in kleinen Kaffees, Bars und solidarischen Zusammentreffen zu leisten. Doch die Furcht, genährt vom Verschwinden vieler Chilenen, beeinflusst Themen und Texte, sie sind jetzt weicher und weniger ausdrucksvoll als in den Jahren zuvor. Der Militärstiefel wird spürbar - in jeder Ecke im Chile unter Pinochet. Das "Ingenieurwesen" der Ideologie des neuen Regimes arbeitet hart, auf hohem wissenschaftlichem Niveau, um das von der Regierung der Arbeiter in jahrelanger Arbeit auf vielen Gebieten Erreichte zu zerstören.

Ende der 80er Jahre kehrte die "Demokratie" zurück - eine aseptische Demokratie, nach dem Wunsch des Diktators verwaltet, ohne eigene kulturelle Identität. Die "Säuberungsarbeit" der Diktatur war erfolgreich, die Bevölkerung erfährt das Leben unter einem entfesselten kapitalistischen Wirtschaftsmodell. Die offensichtlichen Ungerechtigkeiten erzeugen Ressentiments und Armut, vor allem auch kulturelle Armut.


Das "neueste" neue chilenische Lied?

Manche Künstler kündigten die Verträge mit den Labels der großen Kommunikationskonzerne und finden sich in kleineren Geschäftsinitiativen zusammen, um die Musik der neuen "postdiktatorischen Generation" aufzunehmen und zu verbreiten. So werden unabhängige Labels wie z.B. "Oveja Negra" oder "Quemasucabeza" gegründet, auch um unbekannte Künstler und ihre Musik zu fördern. Sie haben eine minimale Infrastruktur, nutzen soziale Netze und bieten kostenlose Downloads im Internet.

Zu Komponisten dieses "Neuesten neuen chilenischen Lieds" gehören Manuel García, Gepe, Camila Moreno, Chinoy, Nano Stern und Anita Tijoux, um nur einige zu nennen. Sie umfassen unterschiedliche Musikrichtungen, die Victor Jara und Violeta Parra als wichtigsten Einfluss ihrer Entwicklung betrachten und versuchen, die Folklore-Tradition mit sozialen Texten und aktueller Musik zu verbinden.

Aber es ist deutlich zu erkennen, dass ihre Themen keinen gemeinsamen Nenner haben, von einer Ähnlichkeit im Stil und Format abgesehen, ist das Kollektiv der Bewegung verloren gegangen. Wie bei ihrer Werbearbeit und Vermarktung dominiert der Generationsindividualismus, die soziale Radikalität der 60er Jahre ist absolut abwesend. Der "sozialkritische" Text der "neuesten" Lieder ist eher verschwommen, er artikuliert sich politisch korrekt, nicht im wagemutigen Protest.

Vielleicht ist das durch die Generationslücke zu erklären: die Akteure haben die Diktatur nicht in ihrem ganzen Ausmaß miterlebt. Und viele kommen aus relativ wohlhabenden Familien, konnten ihre Bildungschancen zum Akademiker nutzen und eine Logistik aufbauen, um ihre künstlerische Karriere im In- und Ausland zu fördern.

Es ist interessant zu analysieren, wie die Ende der 90er Jahre geborene "neue zurückfordernde Avantgarde" die Entwicklung aufnimmt und verarbeitet. Sie erlebte, wie das Establishment gerüttelt wurde, die "kontrollierte" Demokratie die Erwartungen nicht erfüllte. Wirtschaftliche Krisen, die Ungerechtigkeit des Systems, besonders des Ausbildungssystems, riefen große Empörung des Volkes und riesige Demonstrationen hervor. Die "Revolution der Pinguine" (Schüler), bürgerliche Protestaktionen gegen umweltbedrohende Projekte, die zweite Studentenrevolution und die Demonstrationen gegen die Unterdrückung der Mapuche erzeugen ein neues Selbstbewusstsein des Volkes und die Bereitschaft, auf der Straße zu demonstrieren. In dieser Lage geben viele der "neuen Künstler" oft ungeplant Erklärungen in Massenveranstaltungen vor Fernsehkameras ab, fordern die Macht zu politischen Reformen auf. Offenbar soll manche solcher harmlosen Aktionen auch die vermisste Radikalität ihrer musikalischen Schöpfungen ausgleichen.

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Wohin sich das "Neueste neue chilenische Lied" entwickeln wird, ist noch unklar. Hoffentlich zu mehr, als die spanische Zeitung, "El País 2012 im Bericht "Chile, das Paradies der Popmusik" lobte: die erfolgreiche Arbeit im Bereich Marketing und Absatzförderung. Die Kunst ist nicht nur Schöpfung, welche ohne Bedeutung außerhalb des strengen Spielraums der Ästhetik ist, sondern auch Kunst, welche in ihrem historischen Zusammenhang bestimmbar und kontextbezogen ist. Die kreative Verantwortung des Menschen, ebenso wie die den Menschen tyrannisierende, soziale Ungerechtigkeit, kann im musikalischen Werk zu einem ewigen Thema werden, welches in der Gestalt verschiedenster Gesichter, Bilder und Antlitze den historischen Augenblick widerzuspiegeln vermag. Die künstlerische Schöpfung muss heutzutage nicht nur reine Kunst sein, sondern kann ebenso auch ein Engagement in der Gesellschaft sein. Die Kunst muss als Mittel für die Anklage verwendet werden und der Gesang der Verfolgten, der Diskriminierten und der Opfer aller Arten von Unterdrückung werden - aller Menschen, die keine Stimme haben.


Daniel Osorio ist Komponist und Leiter von "MUSIKANDES", (www.musikandes.tk)


Anmerkungen:
(1) Interwiew für die Zeitschrift "Der Musikliebhaber" Nr. 40, Santiago Chile. März,1967 S. 31
(2) Hobsbawn, Eric. Historia del Siglo XX. Barcelona, España. Ed. Crítica. 1995
(3) Silvia Herrera. La vanguardia musical chilena y el movimiento de la nueva canción chilena (1960-1973): dos razones de exilio. Zeitschrift: Der Baum. S. 4.
(4) Torres, Rodrigo. Perfil de la creación musical en la Nueva Canción desde sus orígenes hasta 1973. CENECA. Santiago, 1980.

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Quelle:
Freidenker - Nr. 2-12 Juli 2012, 71. Jahrgang, S. 21-24
Herausgeber: Deutscher Freidenker-Verband
Schillstr. 7, 63067 Offenbach
Tel./Fax: 069-83 58 50
Redaktion: Monique Broquard, Am Friedhof 10, 66280 Sulzbach
E-Mail: redaktion@freidenker.org
Internet: www.freidenker.de
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2012