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GESELLSCHAFT/011: Humanismus - Beitrag aller Kulturvölker (Freidenker)


Freidenker Nr. 3-07 September 2007
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Humanismus - Beitrag aller Kulturvölker
Persönlichkeit, menschliche Gesellschaft, sozialistischer Humanismus - als Dialektik im historischen Prozess

Von Eberhardt Schinck


Die geschichtliche Entwicklung des Humanismus ist nur zu verstehen im Zusammenhang mit der Geschichte der Arbeit, der gesamten gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung der Menschheit. Der Humanismus hat sich keineswegs nur auf der Grundlage von Ideen entwickelt. Vielmehr waren und sind diese nur im dialektisch-reflektorischen Verhältnis zu den jeweils immer historisch konkreten Bedingungen des gesellschaftlichen und geistigen Lebens der Menschen als deren Voraussetzungen und zugleich Ergebnisse zu verstehen. Humanismus hat seinen Ursprung auch nicht nur im griechischen oder römischen Kulturkreis oder später im so genannten "christlich-abendländischen". Humanismus im allgemeinsten Sinne beginnt historisch und seinem sachlichen Inhalt nach mit dem bewussten Nachdenken der Menschen über sich selbst. Mit den Anfängen des Denkens der Menschen über ihre Stellung und Rolle in der Welt - da, wo die Menschen begannen nach ihrer Bestimmung und nach dem Sinn und Zweck des menschlichen Daseins zu fragen und Erklärungen zu finden - entstanden auch die ersten Antworten.

Zur Entwicklung des Humanismus und seiner Ausbildung haben, wenn auch in unterschiedlichem Maße, alle Kulturvölker der Erde ihren Beitrag geleistet. Voraussetzung der Entwicklung des Humanismus war der historische Zustand, in dem die Menschen nicht mehr als Wesen gleicher Ordnung mit gleichen Rechten und Pflichten miteinander in Beziehung standen.

Die Fragen nach dem Menschen, nach dem Sinn seines Daseins sind nur dadurch lebendig geworden, dass die gesellschaftliche Entwicklung dazu führte, dass Ungleiche mit ungleichen Rechten und Pflichten als Herren und Sklaven, Freie und Unfreie, Ausbeuter und Ausgebeutete, Herrschende und Unterdrückte - also als feindliche Klassen sich gegenüber traten. Da die Einheit und Gleichheit der Menschen historisch folgerichtig in der Gesellschaft zerstört wurde, antagonistische Klassen entstanden, wurde die Einheit des gesellschaftlichen Gattungswesens Mensch aufgespalten und individualistisch verkehrt. Damit musste der Mensch sich selbst zum Problem werden.

Das Ringen um die Erkenntnis dieses Problems und seine Lösung ist das eigentliche zentrale Anliegen und die eigentliche Antriebskraft allen wahren humanistischen Denkens und Strebens geworden. Die Versuche, die zu den verschiedenen historischen Epochen von Dichtem und Denkern und vor allem auch in den Klassenkämpfen der Werktätigen zur Lösung dieses Problems unternommen wurden, sind vielfältig und widersprüchlich. Jeder dieser Versuche ist geprägt von seiner Zeit. Ausschlaggebend waren jedoch immer die ökonomischen, politischen, kulturellen und geistigen Bedingungen.


Der Mensch als Maß aller Dinge

Doch bei allen historischen und sozial bedingten Unterschieden weist die Geschichte des Humanismus im Kern eine seinem Wesen entsprechende Kontinuität auf. Man kann diesen "Kern" auch mit dem Ausspruch von Protagoras (ca. 490 - 420 v. d. Z.) ausdrücken: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge, von Dingen, die sind, dass sie sind, und von Dingen, die nicht sind, dass sie nicht sind."

Das Problem des Menschen heute ist die Frage nach seiner Gegenwart und Zukunft, seiner freien, allseitigen und harmonischen Entwicklung. Diese Schicksalsfrage für die Menschheit ist eng mit der Frage verbunden, die Ludwig Feuerbach (1804 - 1872) so formuliert hat: "Die Gegenwart ist nicht das Ende der Geschichte." Ich drücke diese Wahrheit so aus: Statt Ewigkeit des Kapitalismus besteht die Wahrheit in seiner Endlichkeit und in der sozialistischen Zukunft der Menschheit. Wie sich die gesellschaftliche Entwicklung in gesetzmäßiger Form vollzieht, so unterliegt auch der Humanismus entsprechenden parallelen Gesetzmäßigkeiten.

Eine Zeit lang wurden Zusammenhänge dieser Gesetzmäßigkeiten in Bezug auf das Verhältnis Individuum und Gesellschaft auch in den Entwicklungen freidenkerischen Denkens nicht in genügendem Maße beachtet. Gemeint ist das Problem einer gewissen Vernachlässigung der Rolle der Persönlichkeit und des menschlichen Individuums im Rahmen des Problemkreises der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. An eine solche Feststellung klammern sich natürlich heute Ideologen des Antikommunismus ebenso wie Religionsvertreter, bürgerliche Philosophen usw. Sie behaupten, dass man doch anerkennen müsse, dass Probleme des Menschen bei der Entwicklung des Sozialismus keine Beachtung gefunden hätten. Sie behaupten, dass in der materialistischen Geschichtsauffassung generell auf eine Analyse der Persönlichkeit und des Humanismus verzichtet worden sei.

Wahr hingegen ist, dass es um ein allgemeines Theoretisieren, eine abstrakte Untersuchung über die Persönlichkeit ohne die Betrachtung des Menschen in seiner Rolle als Schöpfer der Geschichte kein sinnvolles Ergebnis geben kann. Es ist eine Tatsache, dass eine Abhebung theoretischer Probleme oder Untersuchungen von der realen gesellschaftlichen Entwicklung zu durchaus falschen bzw. sogar antihumanen Schlussfolgerungen führen kann.

Man muss einräumen, dass auch die Begründer des Marxismus logischerweise im Kampf gegen die Idealisten die Bedeutung der ökonomischen Seite in der gesellschaftlichen Entwicklung hervorgehoben haben. Eine von Friedrich Engels (1820 - 1895) vorgetragene Selbsterkenntnis soll das beleuchten: "Wir hatten den Gegnern gegenüber das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen." (Ausgewählte Briefe. Berlin: 1953, S. 504.)

Aber die Behauptung der Leugnung der Rolle der Persönlichkeit ist eine glatte Lüge. Es geht immer im wissenschaftlichen Sozialismus um die Rolle der werktätigen Menschen als Schöpfer der Geschichte und damit auch um die Fragen nach dem Wert der Persönlichkeit, der Werktätigen, nach ihrer Freiheit und ihren Rechten, nach ihrer menschlichen Würde, nach ihrer Stellung und ihrer Rolle in der Gesellschaft. Die Bedingungen für eine freie, allseitige Entwicklung aller Mitglieder der Gesellschaft und folglich auch jedes einzelnen sowie die Bedingungen für wahrhaft menschliche Beziehungen zwischen den Menschen hat der Sozialismus von je her in den Mittelpunkt seiner praktischen wie wissenschaftlichen Überlegungen gestellt.

Die Entwicklungsetappen der wissenschaftlichen Weltanschauung der Freidenker - so auch über den Sozialismus - unterliegen immer den konkreten Fragen des Klassenkampfes für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Und dies wird auch zukünftig sicherlich so bleiben. Hegemonie, Struktur der Bündnisse, Machtfragen, Wesen und Erscheinung des Staates sowie kulturelle Entwicklungen usw. müssen immer einen einheitlichen Organismus bilden. Dies strukturiert den sozialistischen Humanismus.

In Auswirkung des Personenkults um Stalin - besonders auch seiner falschen These von der permanenten Verschärfung des Klassenkampfes während der ganzen Etappe des sozialistischen Aufbaus - zeigten sich fehlerhafte Entwicklungen in der Theorie und Praxis des Sozialismus. Diese Fehler wurden von den Pseudohumanisten verschiedenster Richtungen ausgenutzt, um Antikommunismus zu verbreiten. Dies geschieht bis in unsere heutige Zeit.


Irrationalismus gegen Humanismus

Die strategische Hauptlinie der bürgerlichen Ideologie in der gegenwärtigen global-imperialistischen Periode ist der Irrationalismus. Neoliberalismus. Versuche der sogenannten Delegitimierung des Sozialismus generell - bzw. in der Sowjetunion und in der DDR im Besonderen -, der Antikommunismus sowie religiöser Missbrauch von christlichen ebenso wie auch islamischen Glaubensbekenntnissen usw. sind Mittel und Wege der systematischen Verfälschung der Tatsachen.

Es ergibt sich das paradoxe Bild: Eine Gesellschaftsordnung, die dem Menschen und dem Fortschritt der Menschheit dem Wesen nach feindlich gegenüber steht, versucht die Welt gleichzeitig mit großen Worten von Humanismus und Humanität vom Gegenteil zu überzeugen. Demagogie und Lüge sowie chauvinistisches Machtstreben, wie es kürzlich Bundeskanzlerin Merkel bei ihrem Besuch in China vorführte, sind dabei typische Methoden und Inhalte. Die Kausalitäten von unterschiedlichem Entwicklungsniveau und unterschiedlicher nationaler Kultur werden dabei missachtet. Allerdings entbehrte Merkels Auftritt auch nicht der Komik, denn er schien ebenso erfolgreich, wie wenn der Mopps den Mond anbellt.


Humanismus und Persönlichkeit

In seiner Wortbestimmung zum Begriff Humanität hat Johann Gottfried Herder (1744-1803) in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität (1793 bis 1797) das Entstehen und Bestehen realer Humanität wie folgt definiert: "Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muss uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein: denn eine Angelität [Engelhaftigkeit] im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen." "Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechts. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss, oder wir sinken, höhere und niedere Stände zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück."

Die meisten Strömungen der modernen bürgerlichen Philosophie propagieren eine idealistische Konzeption vom Wesen des Menschen, vom Sinn seines Lebens, von seiner Freiheit, von den Bedingungen seiner Vervollkommnung. Die Vertreter des bürgerlichen Pseudohumanismus bis hin zu den evolutionären Humanisten verteidigen ihre vom realen Kapitalismus, dem globalen Imperialismus erschütterten und kompromittierten Prinzipien und erklären sozialistische Lösungen des Problems der Menschen und des menschlichen Glücks zumindest für utopisch und unreal. Sie berufen sich auf die angeblich schicksalhafte Sündhaftigkeit des Menschen und einen der menschlichen Natur angeblich angeborenen Egoismus.

Michael Schmidt-Salomon schreibt (Manifest des evolutionären Humanismus. Alibri 2005, S. 17.): "'Leben' lässt sich definieren als ein auf dem 'Prinzip Eigennutz' basierender Prozess der Selbstorganisation." Er erklärt seine Feststellung mit der durchaus aus der Sicht der Biosoziologie akzeptablen Tatsache, dass auch die Menschen zunächst ganz generell ihre "Existenz dem eigennützigen Streben ihrer Vorfahren nach Vorteilen im Kampf um Ressourcen und genetischen Fortpflanzungserfolg" verdanken. Seine Schlussfolgerung jedoch, dass sich der Mensch in seinen "Grundzielen nicht von der gemeinen Spitzmaus unterscheiden" würde, ist nicht nur wegen seines trivialen Vergleiches, sondern vor allem wegen seiner undialektischen und sophistischen Begründung abzulehnen.

Das Wesentliche meiner Meinungsverschiedenheit zu dieser Aussage besteht darin, dass hier eine idealistische Auffassung zu den Triebkräften der Menschheitsgeschichte vertreten wird, die ich als unwissenschaftlich bezeichne. Die Darstellungen, die der Verfasser des "Evolutionären Manifestes" vornimmt, weichen von den freidenkerischen weltanschaulichen Positionen des historischen Materialismus prinzipiell ab. Das objektiv wirkende dialektische Prinzip der Negation der Negation wird in der Analyse des historischen Prozesses (vermutlich bewusst) vernachlässigt bzw. geleugnet. In folgender Darstellung wird das deutlich: "Da der Eigennutz als Grundprinzip des Lebens die Quelle aller menschlichen Empfindungen und Entscheidungen ist, wäre es ein sinnloses Unterfangen, ihn als 'moralisch anrüchiges' Rudiment der Evolution überwinden zu wollen. Vielmehr sollten wir so klug sein, ihn als die entscheidende Triebkraft des Lebens in unsere ethischen Konzepte einzubauen, denn er allein ist es, der soziale Innovationen möglich macht. Ideen, die mit den eigennützigen Interessen der Menschen nicht korrespondieren, werden sich niemals in der Gesellschaft durchsetzen können, so gut begründet oder 'ehrenhaft' sie auch immer erscheinen mögen." (S. 18) Weiter schreibt er auf derselben Seite: "Es ist für das Individuum auf lange Sicht gewinnbringender, sich kooperativ nach dem Fairnessprinzip 'wie du mir, so ich dir' zu verhalten

Auch die Reformisten und Revisionisten innerhalb der heutigen Arbeiterbewegung gehen in gleicher Weise vor. Sie suchen nach unversöhnlichen Widersprüchen zwischen Sozialismus und Humanismus, zwischen der Anerkennung der historischen Notwendigkeiten und dem Wert der Persönlichkeit, ihrer Freiheit, ihren Idealen usw. Im Interesse der Delegitimierung der sozialistischen Gesellschaft sprechen sie von unversöhnlichen Gegensätzen zwischen dem Kollektiv und den Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums. Zwischen einer sozialistischen Staatsmacht einerseits und der Persönlichkeit andererseits, zwischen Menschlichkeit und der Notwendigkeit, die gegen die Menschlichkeit gerichteten Handlungen von Feinden des sozialistischen Staates zu unterbinden; sie versuchen die Abkehr vom Individualismus als Unterdrückung der Persönlichkeit hinzustellen. Sie verkehren bewusst eine Kritik am abstrakten Humanismus in ihr Gegenteil, nämlich einen angeblichen Verzicht auf den Humanismus überhaupt. Besonders militant sind dabei die Anhänger des unverhüllten Antikommunismus der verschiedensten Couleurs. Gleichzeitig finden wir auch unter den aktuellen Vertretern des Dogmatismus und Sektierertums sehr viel antihumanistisches Gedankengut.


"Revolutionärer" Humanismus

Die Beziehungen, die der Mensch als gesellschaftliches Wesen eingeht, und von denen seine allseitige Entwicklung und Entfaltung abhängt, sind vielgestaltig. Deshalb ist das Humanismusproblem mit der Gesamtheit der philosophischen, soziologischen, sozialen und politischen, ethischen, ästhetischen, ideologischen und anderen Fragen verbunden, die die Persönlichkeit, ihre Ganzheitlichkeit in Gegenwart und Zukunft betreffen. In diesem Sinne ist sozialistischer Humanismus revolutionärer Humanismus. Denn ihm ist praktisch und theoretisch die Notwendigkeit der Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Notwendigkeit des Aufbaus sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse inhärent. Nur so kann eine sozialistische Zivilgesellschaft entstehen.

Im Unterschied zum so genannten evolutionären Humanismus geht revolutionärer Humanismus von der Beseitigung der sozialen antagonistischen Widersprüche aus. Die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen stellt zugleich die Beseitigung seiner Entfremdung sicher. Dieser Prozess impliziert die grundlegenden persönlichen Interessen aller Individuen. Damit werden erstmalig die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Natur als solche, der Schutz der Umwelt, alle Ergebnisse von Wissenschaft und Technik usw. im Interesse aller Mensch erhalten und entwickelt werden. Karl Marx verband diesen Sinn des Humanismus mit dem Begriff des realen Humanismus und dem Begriff des Kommunismus.


Revolutionärer Humanismus gegen Entfremdung des Menschen

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Prinzipien des Humanismus verwirklicht werden können, ist von entscheidender Bedeutung. Sie muss deshalb sowohl in der Bestimmung seines Inhalts als auch bei der Analyse seiner konkreten Probleme in Gegenwart und Zukunft ihren Ausdruck finden.

Man kann die Frage nach den Bedingungen für die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit nicht allein mit der Analyse der Produktionsverhältnisse, der Produktionsweise insgesamt, der nationalen Frage, der Frage nach der Stellung der Frau, der Jugend und einer ganzen Reihe anderer, zweifellos sehr wichtiger Fragen, beantworten. Revolutionärer Humanismus muss deshalb seine Aufgabe darin sehen, die Verbindung zwischen den genannten Fragen und den Problemen der in der Welt vorhandenen sozialen Bedingungen für die Entwicklung des Menschen aufzudecken. Im Mittelpunkt müssen die sozialen Beziehungen und Bindungen zwischen Gesellschaft und Individuum, die Bedingungen und objektiven Gesetzmäßigkeiten stehen, die die Entwicklung der Menschen unmittelbar bestimmen.

Will man die Frage beantworten, warum evolutionärer Humanismus letztendlich keine Chance für die Veränderung der Welt besitzt, muss man darauf verweisen, dass er keine gründliche Analyse der Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsformation, keine adäquate Analyse ihrer Triebkräfte. keine Analyse ihrer einzelnen Entwicklungsstadien, keine Analyse der Wechselwirkungen der Klassenkräfte vornimmt.

Um aber die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie wahrhaft zu verändern (Marx in seinen Feuerbach-Thesen), sind beide - wissenschaftliche Analyse und praktische gesellschaftliche Veränderungen - in Einheit notwendig. Es ist auch nicht hilfreich, wenn die Erkenntnisse und Aufzählungen quantitativer Seiten und Erscheinungen im real existierenden Kapitalismus mit kritischen Pflästerchen, mit Alltagsverbesserungen oder gar reformistischen Steuerungen versehen werden sollen, um ein friedliches Hineinwachsen in veränderte Lebensverhältnisse zu erwarten. Es fehlt hier nämlich die Konsequenz, dass alle quantitativen Entwicklungen letztendlich nur dann eine neue Gesellschaftsformation hervorbringen werden, wenn der revolutionäre Sprung in eine neue Qualität nicht als unnötig oder unmöglich angesehen wird. Die Begründung für einen solchen revolutionären Sprung ist durch den Nachweis der Entfremdung des Menschen selbst in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gegeben.

In einer Welt, in der das Privateigentum herrscht, entstellt das Geld die menschlichen Beziehungen. Der Mensch wird zur Ware. In der bürgerlichen Gesellschaft ist Geld Wert aller Dinge. "[Das Geld] hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an." (Karl Marx: Zur Judenfrage. ME/Werke Bd. 1, S. 375.)

Karl Marx (1818-1883) hat in seiner Schrift die "Heilige Familie" die Kausalität der Klassenfrage bekanntlich wie folgt beantwortet: "Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigene Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz." Den Kapitalisten als Eigentümern der Produktionsmittel steht die Masse der Lohnabhängigen gegenüber. Diese sind gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Der Arbeiter wird sich selbst fremd in seinem Arbeitsprodukt, das ihm nicht gehört (Entfremdung). Die Arbeiter, das Proletariat, haben demzufolge die geschichtlich notwendige Aufgabe, die Selbstentfremdung durch Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden."

Ernst Bloch hat in seinem Band "Naturrecht und menschliche Würde" (Suhrkamp-Verlag Frankfurt a.M. 1961, S. 179.) den Gedanken von Karl Marx wie folgt aufgegriffen: "Auch das Bürgertum mithin hat es mit seiner Freiheit ... eben nur zum 'Schein einer menschlichen Existenz' gebracht; ganz dagegen lebte im revolutionär werdenden Proletariat das Ideal der Handlungsfreiheit fort, das Ideal nicht nur der Selbstbestimmung, sondern auch - um Täter seiner Taten sein zu können - der Geschichtsbestimmung."

Der Begriff revolutionärer Humanismus widerspiegelt die Lebens- und Kampfziele der Arbeiterklasse im Bunde mit den anderen Werktätigen. Er beinhaltet die wesentlichen Grundlagen des sozialistischen Humanismus. Diese Besonderheit dieses Humanismus meinte Maxim Gorki (1868-1936) als er schrieb: "Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wird die wirkliche Menschenliebe als schöpferische Kraft organisiert, sie setzt sich das Ziel, hunderte Millionen arbeitender Menschen aus der unmenschlichen und unsinnigen Gewalt einer verschwindenden Minderheit zu befreien." (Auswahl von Werken. Berlin 1960, S. 208.)

Evolutionärer Humanismus sieht im Egoismus, im nackten Daseinskampf des Menschen, im Sich-durchsetzen- und -behaupten-Wollen als Persönlichkeit die Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung. Um die Notwendigkeit eines revolutionären Weges zu verneinen oder aber einer Legitimierung des revolutionären Weges und Kampfes der Arbeiterklasse aus dem Weg zu gehen, erklären sie Sozialismus (oder auch nur "neue Welt") zu einer Frage der Moral und ersetzen den Klassenkampf des Proletariats durch die idealistische Idee der sittlichen Selbstvervollkommnung aller Menschen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Damit ordnen sie das objektiv in der Gesellschaftsentwicklung wirkende Kausalitätsprinzip ethischen Standpunkten, besser gesagt Spekulationen, unter.

In aktuellen politischen Programmen auch von linken Politikern und Ideologen findet dies seinen Niederschlag. So wird die kapitalistische Gesellschaftsordnung als solche nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer revolutionären Überwindung sondern nur als vervollkommnungs- und veränderungswürdig angesehen. Dass aber solcherlei Veränderungen im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts nur Anhäufungen von Quantitäten sein können, die letztendlich im Sprung in eine neue Qualität münden müssen, um wirklich eine neue Qualität einer Gesellschaftsformation zu erreichen, wird hier negiert. Das weist alle Verfechter eines solchen ausschließlich evolutionären Entwicklungsweges letztendlich als Anpasser an die bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse aus.

Es ist keine Eigentümlichkeit der Neuzeit, dass stets mehrere Anläufe notwendig waren, um zu einer höheren Stufe entwicklungsgeschichtlicher Kultur zu gelangen. Auch die jüngste Geschichte des Sozialismus bringt uns dafür neuere Anhaltspunkte und Beweise. "Von Knoten zu Knoten, von einer Qualität zur anderen, gelangt man nur durch einen Sprung; zwischen ihnen liegt, in das Kontinuum [lückenlos Zusammenhängendes] des Fortgangs inkorporiert [einverleibt], ein absoluter Bruch (Hans Heinz Holz; Weltentwurf und Revolution. Metzler-Verlag, S. 480) Dies ist jedoch kein Abbruch sondern ein unaufhörlicher Übergang. Holz schreibt weiter: "Die neue Qualität, die sich im Übergehen herausgebildet hat, ist nur ein vorläufiges Resultat des Prozesses und geht ihrerseits wieder über in eine von ihr verschiedene Qualität." (ebd.)

Hierin verbirgt sich das dialektische Prinzip der Negation der Negation. Revolutionärer Humanismus ist kein Feind von Reformen, wenn sie im Interesse der Arbeiter und aller anderen Werktätigen bzw. der vom Reichtum Ausgeschlossenen liegen. Im Gegenteil, revolutionärer Humanismus impliziert die Kämpfe um solche Reformen. So betrachtet sind Reformen quantitative Schritte, die im Bruch mit der alten kapitalistischen Gesellschaft und im Sprung hin zu einer neuen Qualität der Gesellschaft, zum Sozialismus, ihre Weiterführung finden müssen. Ohne revolutionäre Dynamik ist kein Weg zum Sozialismus offen. Als Konsequenz aus dieser dialektischen und materialistischen Analyse des historischen Prozesses leiteten Marx und Engels im Kommunistischen Manifest (1847) ihre plausible Definition der Zielstellung der vielschichtigen Kämpfe der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten ab: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (ME/Werke. Bd. 4, S. 482.)


Oktoberrevolution 1917 in Russland und realer Humanismus

Die Oktoberrevolution 1917 in Russland hatte die Frage nach dem Inhalt des sozialistischen Humanismus konkret und in seiner ganzen praktischen und theoretischen Vielschichtigkeit auf die Tagesordnung gesetzt. Die Führer der russischen Revolution waren Architekten und Baumeister zugleich für die erste Gestaltung des Gebäudes eines sozialistischen Humanismus. Maßgeblichen Einfluss darauf hatte auch Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924). Die russische Revolution hat grundlegend etwas Neues in die Welt gebracht, weil sie vom revolutionären Humanismus geprägt wurde.

Die Revolution entstand kraft der den Ereignissen in Russland inne wohnenden eigenen Entwicklungslogik und einer konkret historischen internationalen Situation. Zahlreiche Quellen von Unzufriedenheit des Volkes vereinigten sich in einem reißenden Strom des Unwillens, die bestehenden Verhältnisse weiter zu akzeptieren. Dies führte zum Sturz der zaristischen Herrschaft. Als unfähig erwies sich aber auch die folgende bürgerliche Regierung, die die Monarchie ersetzte. Sie sah sich nicht imstande, die Hauptaufgaben jener Zeit zu lösen: die Beendigung des Krieges und die Übergabe des Bodens an die Bauern. Der Oktober wurde zum Kulminationspunkt der großen russischen sozialen Revolution. Die Sehnsüchte der einfachen Leute und die zugespitzten Probleme harrten einer radikalen Lösung.

Der revolutionären russischen Sozialdemokratie, unter ihnen die Führer der Revolution und die engsten Mitstreiter Lenins, fiel die Rolle der Hegemonie zu. Natürlich war keiner der Führer des Oktobers fehlerfrei. Jeder beging auch seine Sünden. Aber weder ihre Dämonisierung als Putschisten noch ihre Vergöttlichung kann einer objektiven Analyse ihres Wirkens gerecht werden. Als Hauptlehre aus der großen russischen Revolution gilt die Schlussfolgerung für den sozialistischen Humanismus: Die Bedingungen für eine gewaltsame Revolution entstehen immer dann, wenn die herrschende Klasse, verblendet durch die Gier nach eigener Bereicherung und Erhaltung ihrer Privilegien, das Wohlergehen des Volkes vernachlässigt. In einem solchen Fall bleibt den besitzlosen Klassen kein anderer Ausweg, als ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Den russischen Arbeitern, Soldaten und Bauern gelang es erstmalig, einen Erfolg bringenden Weg des Sturzes des Zarismus und des Kapitalismus in Russland in die Wege zu leiten. Darin besteht ihr welthistorischer Verdienst. Weitere Aspekte hierzu habe ich in meinem Artikel im FREIDENKER 2-07, Seite 3 bis 10 beschrieben.


Eberhard Schinck ist stellv. DFV-Vorsitzender


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Quelle:
Freidenker - Nr. 3-07 September 2007, Seite 13-20, 66. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
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Internet: www.freidenker.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2010