Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → FREIDENKER

GESELLSCHAFT/013: Krise ohne Widerstand? (Freidenker)


Freidenker Nr. 4-09 Dezember 2009
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Krise ohne Widerstand?

Von Werner Seppmann


In den 'Wirtschaftswunderzeiten' der Nachkriegsjahrzehnte war auch innerhalb linker Diskussionen die Sichtweise verbreitet, dass durch die Entwicklung einer 'Wohlstandsgesellschaft' und ihrer Partizipation an der 'Konsumkultur', die Lohnabhängigen sich ihr Widerspruchsbedürfnis hätten 'abkaufen' lassen.

Wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, hätte nach eines nun schon mehr als zwei Jahrzehnte währenden Angriffs des Kapitals auf elementare Interessen großer Bevölkerungsgruppen, die zunächst mit steigender Arbeitslosigkeit und forciertem Sozialabbau begann, um sich übergangslos in einer Phase verfestigender Ausgrenzung und zunehmender Verarmung fortzusetzen, sich nennenswerter Widerstand artikulieren müssen.

Jedoch trotz der Weltwirtschaftkrise und wachsender Massenarbeitslosigkeit, trotz zunehmender Bedürftigkeit und grassierender Perspektivlosigkeit, herrscht politische Friedhofsruhe. Gerade weil den wenigen Gewinnern dieser dramatischen Umgestaltungsprozesse viele Verlierer gegenüber stehen, lähmt Verunsicherung und Angst eine Mehrheit der Betroffenen. Dem Kapital ist es dadurch möglich, die neoliberalistischen Ziele weiter zu verfolgen, die Steigerung der Kapitalprofitabilität durch die Intensivierung der Ausbeutung weiter voran zu treiben.

Mag durch den ökonomischen Absturz auch der Neoliberalismus als konzeptionelle Ideologie an Überzeugungskraft eingebüßt haben, sein praktischer Gestaltungsdrang existiert ungebrochen: Der Kapitalverwertung und Gewinnmaximierung wird absolute Priorität eingeräumt und eine soziale Katastrophenentwicklung billigend in Kauf genommen. Verändert hat sich nur, dass dieses Bestreben sich nun als Beitrag zur Krisenbewältigung darzustellen weiß.

Ob die zaghaften Anzeichen einer 'konjunkturellen Wiederbelebung' zu einem tragfähigen 'Aufschwung' führen werden, ist höchst fraglich. Viel eher scheint die gegenwärtige Krise einen Stagnationscharakter zu besitzen, die auch die beiden vorangehenden Weltwirtschaftskrisen charakterisierte. Während die erste große Krise 1857 nur von kurzer Dauer war, stagnierte nach dem Zusammenbruch 1873 die Wirtschaft fast ein ganzes Jahrzehnt. Auch das symbolische Jahr 1929 war nur der Beginn immer neuer Zusammenbruchswellen: Während zuerst die Industrieproduktion und der Welthandel (auf zwei Drittel seines ursprünglichen Volumens) zusammenbrach, kollabierte bis 1931 auch das Bankensystem. Erst 1933 erreicht die 'Große Depression' ihren Tiefpunkt. Voraussichtlich wird nach dem aktuellen Absturz (Rückgang der globalen Weitwirtschaftsleistung 2009 um 11 Prozent) die Kapitalverwertung nur langsam wieder in Schwung kommen und sich ein Schema wiederholen, dass schon seit längerem für den Konjunkturverlauf charakteristisch ist: In kaum noch unterscheidbarer Weise gehen Auf- und Abschwungstendenzen ineinander über. Wahrscheinlich ist, dass es sich bei den nächsten 'Konjunkturschüben' um bloße Strohfeuer, bzw. Zwischenbewegungen handelt, dass also nach kurzer 'Erholung' neue Einbrüche erfolgen werden.

Die sozialen Konsequenzen der Krise werden sich auch diesmal phasenverschoben zeigen. Der Gipfelpunkt der 'sozialen Kosten' ist noch lange nicht erreicht, obwohl schon innerhalb des ersten Jahres der Weltwirtschaftskrise global fast 60 Millionen Arbeitsplätze (alleine in den USA waren es monatlich 850.000 Jobverluste) verloren gingen und eine spürbare Wohlstandsreduktion zu verzeichnen ist. In den peripheren Zonen des imperialistischen Systems werden weitere 150 Millionen Menschen bitterster Armut überantwortet.

Auch in den entwickelten Zonen ist die Spirale nach unten kaum auszuhalten: In der BRD ist eine neue Arbeitslosigkeitswelle durch die Kurzarbeiterregelung nur aufgeschoben worden. Dass neue Beschäftigungsmöglichkeiten in einem überschaubaren Zeitrahmen wieder entstehen werden, ist nicht sehr wahrscheinlich. Den arbeitenden Männer und Frauen werden wohl noch längere Zeit mehr oder weniger große Opfer abverlangt werden. Die schon seit zwei Jahrzehnten manifeste Tendenz der sozialen Rückstufung, die Verallgemeinerung von Unsicherheit und der Verlust positiver Zukunftsperspektiven dürften ein 'Modell' mit Langzeitwirkung sein - solange jedenfalls, wie sich kein wirksamer Widerstand dagegen formiert.


Angriff auf die Lebensinteressen der Lohnabhängigen

Sichtbarer Ausdruck des 'Erfolges' des neoliberalistischen Umgestaltungsstrebens ist neben der beträchtlichen Zunahme der Gewinn- und Kapitaleineinkünfte, als Kehrseite die Stagnation der Einkommen der abhängig Beschäftigten: Zwischen 1991 und 2006 reduzierten sich die Löhne in der BRD real um fast 2 Prozent. Gleichzeitig stiegen die Erträge aus Geldkapital und Anlagevermögen um fast 40 Prozent. Alleine in dem relativ kurzen Zeitraum von 2000 bis 2006 gelang es dem Kapital mit tatkräftiger Staatsunterstützung, die Lohnquote (also den Anteil der abhängig Beschäftigten am Sozialprodukt) um über 10 Prozent zu reduzieren.

Das bedeutet im Resultat einen jährlichen Einkommensverlust der abhängig Beschäftigten von 130 Milliarden Euro! Systematisch wurden auch die sozialen Sicherungsstandards reduziert und die Rechte der Arbeitskraftverkäuferinnen und -verkäufer beschnitten. Zwischen 2000 und 2008 summierten sich die Verteilungsverluste für die Lohnabhängigen auf fast 600 Milliarden Euro.

Den wirkungsvollsten Angriff auf die Lebensinteressen der Lohnabhängigen organisierte in der Bundesrepublik die Regierung Schröder: Sie 'liberalisierte' u.a. die Leiharbeit, erleichterte die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen, lockerte den Kündigungsschutz, förderte die Auflösung von Tarifbindungen für die Unternehmen und die Entstehung vielfältiger Formen prekärer Beschäftigung (Minijobs etc.). Flankiert wurden diese Maßnahmen durch einen Fundamentalangriff auf das soziale Sicherungsnetz: Die Agenda 2010 bedeutete für die Hälfte der Arbeitslosengeldbezieher geringere Leistungen als vorher, vor allem aber die Institutionalisierung der Unsicherheit und die Verallgemeinerung der Gefahr, nach einjähriger Arbeitslosigkeit in einen Abstiegs- und Verarmungssog zu geraten.

Der triumphierende Marktradikalismus hat eine Spur gesellschaftlicher Desintegration und sozialer Bedürftigkeit hinterlassen: Sichtbarster Ausdruck des 'Erfolges' seines ausbeutungszentrierten Umgestaltungsstreben ist die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse: Während 1998 noch fast drei Viertel der bundesdeutschen Erwerbstätigen eine unbefristete und sozialversicherungspflichtige Vollzeitstelle hatten, waren es 2008 nur noch zwei Drittel. Auch wer den ganzen Tag arbeitet, verdient in diesen Bereichen der Arbeitswelt oft nicht genug, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Statt selbstständig ihr Leben gestalten zu können, sind die 'Flexibilisierungs'-Opfer auf Unterstützungsleistungen angewiesen und müssen sich den damit verbundenen Prozeduren der Überprüfung und Demütigung unterwerfen. Mehr als ein Drittel der Lohnabhängigen lebt mittlerweile in akuten Armutslagen, oder in so unsicheren Verhältnissen, dass sie jederzeit in jene absinken können.

Der Neoliberalismus ist jedoch kein 'pervertierter Kapitalismus', wie seinen tatsächlichen Charakter relativierend behauptet wird, sondern ein Kapitalismus, der konsequent die entstandenen Spielräume (Schwächung gewerkschaftlicher Handlungsmacht durch zunehmende Arbeitslosigkeit und Internationalisierung der Arbeitsmärkte) ausnutzt, um das in vergangenen sozialen Kämpfen verlorene Terrain zurückzuerobern, um sich weiterhin ohne all zu viele Beschränkungen reproduzieren zu können.


Ende des Neoliberalismus?

Nachdem es den neoliberalen Strategien durch die Absenkung der Masseneinkommen und die Ansammlung gewaltiger Kapitalmassen in den Händen weniger in Kombination mit einer Deregulierung der Kapitalmärkte gelungen war, die Basis für einen sich beschleunigenden Casino-Kapitalismus zu schaffen (und damit auch ihren Anteil an der Aufblähung und am letztlichen Zerplatzen der Spekulationsblase hatten), wird der Krisendruck nun wiederum dazu benutzt, die Arbeits- und Lebensbedingungen für die Lohnabhängigen weiter zu verschlechtern, jedoch auch, um diesen Zustand strukturell abzusichern.

Um das neoliberalistische Programm einer systematischen Reduktion des Anteils der Lohnabhängigen an der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion fortzusetzen und die Ausbeutung der Arbeit weiter voran zu treiben, bietet die Weltwirtschaftskrise dem Kapital neue Chancen. Die krisenbedingten Einkommensreduktionen für die Lohnabhängigen in der BRD werden sich auf nochmals weitere 100 Milliarden Euro jährlich belaufen.

Große Sorgen vor einem Gegendruck braucht das Kapital sich nicht zu machen. Jedenfalls nicht nach den Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte, in denen der soziale Konfrontationskurs sich für den herrschenden Block als politisch relativ harmlose Angelegenheit dargestellt hat. Statt Auflehnungsbereitschaft dominierte bei den Lohnabhängigen Resignation und Zurückhaltung, denn die sozial erzeugte Angst wirkte einschüchternd und disziplinierend.

Die Krise arbeitet also zunächst einmal dem herrschenden Block in die Arme. Fundamentale Krisen lassen zwar ein mögliches Ende des Kapitalismus erahnen, jedoch werden in solchen Umbruchphasen gewöhnlich ökonomische Ungleichgewichte und strukturelle Verzerrungen beseitigt. Mit den Worten, dass "die Krisen immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandenen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen [sind], die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen", hat Marx diesen Wirkungsmechanismus beschrieben.

Die gesellschaftliche Widerspruchsentwicklung wird von den Lohnabhängigen zwar wahrgenommen (oft auch schmerzlich erfahren), jedoch in einer hinnehmenden und selbstunterdrückenden Weise verarbeitet. Das gilt im besonderen Maße für die Ausgegrenzten: Alle einschlägigen sozialpsychologischen Untersuchungen über die individuellen Reaktionen auf die Erfahrung von Arbeitslosigkeit beschreiben psychische Verengungs- und Destabilisierungsprozesse, von denen auch die Opfer der aktuellen Prekarisierungs- und Ausgrenzungsvorgänge geprägt werden:

Oft geht der Arbeitslosigkeit eine Phase der beruflichen Unsicherheit voraus, die von den Betroffenen als bedrückend und beängstigend empfunden wird. Abrupt eintretende Arbeitslosigkeit führt zu einem schockähnlichen Zustand, der allmählich von Etappen zunehmender Gleichgültigkeit und Beklommenheit abgelöst wird. Der psychologische Erlebnisraum der Betroffenen schrumpft zusammen und apathische Haltungen gewinnen Oberhand. In deren Konsequenz 'verabschieden' sich die Ausgegrenzten von ihrem sozialen Umfeld, wobei auch selbstbeschädigende Konsequenzen in Kauf genommen werden. Es dominiert das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben verloren zu haben. Viele der Erwerbslosen sind wie gelähmt, es fällt ihnen schwer, selbst die einfachsten Dinge des Alltags zu erledigen.


Aufstand der Massen?

Werden solche Befunde ernst genommen, erweisen sich Hoffnungen auf spontane Widerstandshandlungen der Marginalisierten und 'Randständigen' als illusorisch. Aber auch, wenn aufgrund der Dominanz einer selbstbeschädigenden Verarbeitung der gesellschaftlichen Widerspruchserfahrungen es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass die Prekarisierten zur Antriebskraft einer neuen Widerstandsbewegung werden, ist eine solche Entwicklung dennoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Zwar befinden sich die Krisenopfer auf den ersten Blick wie in einer Schockstarre, jedoch brodelt es unter der Oberfläche. Es haben sich nicht nur Verzweiflung und Resignation ausgebreitet, sondern auch Wut und Zorn aufgestaut. Niemand scheint das deutlicher zu spüren als das politische Management. Es gibt aus ihren Reihen nicht nur die Warnungen vor Protesten und spontanen Erhebungen; aufschlussreich ist auch, dass ehemalige Wanderprediger des Neoliberalismus und Aktivisten des Sozialabbaus sich an die Spitze der Kritiker der ehemals von ihnen geforderten und geförderten Entwicklungen gesetzt haben. Sie bedienen antikapitalistische Stimmungen: indem sie sich mit Symptomen, vorrangig mit Manager-Gehältern und Gewinn-Beteiligungen von Bankern beschäftigen, verbergen sie ihr Schweigen über die explodierenden Gewinne von Aktionären und Spekulanten. Sie täuschen den Wählern vor, ihre 'berechtigten Interessen' zu vertreten, sind jedoch in der Hauptsache bemüht, die Profitabilität des Finanzkapitals sicherzustellen.

Sollten die Methoden der Irreführung, Problemverleugnung und Verdrängung nicht mehr funktionieren, die tatsächlichen Kosten für die 'Rettungsmaßnahmen' präsentiert werden, weitere Entlassungen und neue tiefe Einschnitte ins soziale Netz bevorstehen, ist allen gegenläufigen Tendenzen zum Trotz eine Entwicklung spontaner Protestformen nicht ausgeschlossen. Die Karten könnten trotz aller Einschüchterungseffekte der Krise doch noch einmal neu gemischt werden, weil bei den Krisenopfern der geschilderte 'Abschied von der Realität' und die resignative Hinnahme des 'Schicksals' nicht irreversibel festgeschrieben sind. Bei einem Teil der Betroffenen führen die psychischen und mentalen Reaktionen weder zur vollständigen Selbststigmatisierung, noch zu einem kompletten sozialen Selbstausschluss. Teile der marginalisierten und gedemütigten Krisenopfer sind sehr wohl noch in der Lage, psychische Widerstandskräfte zu entwickeln. Das wird möglich, wenn sie sich in den neuen Verhältnissen 'eingerichtet' und illusionäre Erwartungen (deren Enttäuschung bei einer Mehrheit resignative Schübe auslöst) überwunden haben. Dann ist es ihnen möglich, ihre alltagsrelevante Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen und auch politische Perspektiven zu entwickeln.

Die politischen stagnationstendenzen sind also kein Endpunkt, sondern im günstigsten Fall ein Zwischenstadium. Zur Verabsolutierung bestehender Defensivzustände besteht, wenn man sich nicht den herrschenden Weltanschauungsbedürfnissen unterwerfen will, kein Anlass. "Die herrschende Ordnung ist anmaßend genug, um sich als Inbegriff der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit zu verherrlichen, also als Ausdruck der objektiven Wahrheit. In Wirklichkeit ist sie das Resultat bestimmter Machtverhältnisse. Die sozialen und politischen Revolutionen der letzten 150 und 200 Jahren sind letztendlich gescheitert, aber es gab sie [und ihre Resultate wirken oft in vermittelter und vielfältiger Weise fort!]. Allein diese geschichtliche Erfahrung beweist, dass Geschichtsverläufe korrigierbar sind." (H. Saña)

Die historische Entwicklung ist immer für Überraschungen gut: "Das Sichere ist nicht sicher / So wie es ist, bleibt es nicht." (Brecht) Jedoch lässt sich der Zeitpunkt der "Erdbeben, die kommen werden" (Brecht) nicht prognostizieren. Die historische Erfahrung zumindest lehrt, dass Widerstand sich oft nur phasenverschoben entwickelt und Bewegungen dann entstehen, wenn sie am wenigsten erwartet werden. Große Proteste und Aufstände gab es auch erst einige Jahre nach dem Zusammenbruch der Börsen im Jahre 1929.

Jedoch gerade, wenn sie ausbrechen würden, wäre der soziale Absturz und die daraus resultierende Verunsicherung und Perspektivlosigkeit alles Andere als ein verlässlicher Kompass für progressive Veränderungen. Gerade, wenn das wenig Wahrscheinliche eintreten, also die Massen rebellieren würden, müssten orientierende Perspektiven vorhanden sein, soll der Widerstand nicht ins Leere laufen! Denn ohne greifbare Ziele bleibt Protest meist nicht nur ergebnislos, sondern festigt auch den verbreiteten Eindruck, dass man "ja doch nichts machen könne".

Eine große Gefahr sollte nicht ignoriert werden: Eine Verschärfung der Krise könnte zu einem weiteren Anwachsen faschistischer Kräfte führen. In vielen Teilen Europas ist das ja schon der Fall. Bei den Wahlen zum EU-Parlament im Juni 2009 haben rechtsradikale und sogenannte rechtspopulistische Parteien in Ungarn über 60 Prozent, in den Niederlanden, Belgien und in Dänemark jeweils exakt 15,1 Prozent, sowie in Osterreich mehr als 13 Prozent der Stimmen erhalten. Nicht unwahrscheinlich ist, dass es auch in der Bundesrepublik zu einer 'nachholenden' Entwicklung, also es zu einem neuen Zulauf für den Rechtsextremismus kommen wird. Dies abzuwehren, oder einer spontanen Bewegung ein progressives Ziel und eine politische Struktur zu vermitteln, sind die antikapitalistischen Kräfte gegenwärtig nicht stark genug. Sie befinden sich wie die Gewerkschaften in der Defensive.


Chancen des Widerstands

Trotz ihrer zunächst einschüchternden Wirkung und der Gefahr einer Zunahme irrationalistischer Orientierungen und autoritärer Unterwerfungsbereitschaft bietet die Krise, bei einem realistischen Verständnis der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, dennoch die Chance, die Widerstandsfähigkeit zu stärken.

Angesichts der gegenwärtigen Schwäche der antikapitalistischen Kräfte kann das zunächst nur im gewerkschaftlichen Rahmen geschehen. Dazu müssten es jedoch diese Klassenorganisationen zunächst wieder lernen, die sozialen Auseinandersetzungen (ausgehend von den Kämpfen um den Lohn und den Arbeitsplatz) mit einer Intensität zu führen, die den Problemen angemessen ist - und wie es das Kapital immer getan hat. Nur dann kann es gelingen, aus der gegenwärtigen Defensivposition heraus zu gelangen. Mit reiner Interessenvertretung und bloßen Abwicklungsstrategien wird das nicht gelingen. Der Kampf muss politisch werden, in seinen Orientierungen, so wie das Kapital es macht, aufs "Ganze" gehen und die gesellschaftlichen Strukturierungs- und Organisationsprinzipien thematisieren.

Die Gewerkschaftskollegen, die sagen, das ist illusionär, die Belegschaften seien zu passiv und orientierungslos, können zweifellos viele Erfahrungen anführen. Aus der gegebenen Defensive lassen sich erfolgreiche Kämpfe nur sehr schwer führen. Umso wichtiger ist es, wenn günstige Konstellationen existieren, die Gelegenheit beim Schopfe zu fassen! Meist entstehen sie unerwartet, deshalb gilt es, auf solche erfolgsversprechenden Aktionsbedingungen (beispielsweise, wenn die Kämpfe in einer bestimmten Branche von allgemeinen Interesse für alle Lohnabhängigen sind, weil die erkämpften Sicherungsstandards ausgehebelt werden sollen) vorbereitet zu sein. Existieren sie, ist das naheliegende Mobilisierungsmittel der politische Streik.

Ein politischer Streik kann nicht blind vom Zaun gebrochen werden, jedoch die Bereitschaft ihn in Betracht zu ziehen (und sei es nur in der Form massenhafter "Warnstreiks") muss vorhanden sein, um den Allmachtsansprüchen des Kapitals etwas entgegensetzen zu können und der schleichenden Aushöhlung gewerkschaftlicher Handlungsmacht zu begegnen.

Solch günstige Voraussetzungen gab es in der BRD beim Tarifkampf um die Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst vor einigen Jahren. In diesem Konflikt handelte der Staat stellvertretend für das Kapital, um neue Standards zu setzen und auch, um die Gewerkschaften demontieren zu können, indem Tarifverträge gekündigt wurden, um die Arbeitszeiten zu verlängern. Das Kalkül ging auf: Die Niederlage war vorprogrammiert, weil es zu den gemeinsamen Aktionen, zumindest eines Teils der DGB-Gewerkschaften, die als Abwehrmaßnahmen notwendig gewesen wären, nicht gekommen ist.

Schon wenn die Gewerkschaften den Einsatz konsequenter Aktionsformen nur ernsthaft in Erwägung zögen, sich organisatorisch darauf einstellten, sich auch bei politischen Entscheidungen, durch die existenzielle Interessen der Lohnabhängigen berührt werden (Sozialabbau etc.), unmissverständlich zu Wort zu meldeten, würde sich ihre Durchsetzungsfähigkeit auch bei den "Tagesforderungen" merklich erhöhen. Belassen sie es dagegen dabei, den Streik nur im äußersten Falle bei Tarifauseinandersetzungen einzusetzen, unterwerfen sie sich Spielregeln, bei denen sie immer häufiger nur noch verlieren können.

Der politische Streik drängt sich auf, weil er mobilisierenden Charakter hat und vom Kapital nicht so leicht unterlaufen werden kann wie die bei den Tarifauseinandersetzungen üblichen Aktionsformen. Denn die Volkswirtschaft und das Gemeinwesen lassen sich nicht einfach "auslagern". Wenn das Kapital seine Verwertungsbasis nicht verlieren will, muss es auf mit Nachdruck unterstrichene Forderungen reagieren.

In allen historischen Situationen, in denen es ums 'Grundsätzliche' ging, hat das Kapital große Flexibilität bewiesen: Angesichts der Gefahr seinen Einfluss zu verlieren, war es immer auch zu Strukturreformen bereit, natürlich in der Hoffnung, das Rad der Geschichte (was ihm oft auch gelungen ist) wieder zurück drehen zu können.

In der gegenwärtigen Entwicklungsphase der Klassenkämpfe kommt die 'Stunde der Wahrheit' für die Kräfte der Veränderung (solange der Kapitalismus noch über Selbststabilisierungskräfte verfügt und auch die ideologische Hegemonie nicht verloren hat) jedoch nicht unmittelbar in der Krise, sondern in den Phasen danach, wenn es (in welcher Intensität auch immer) neue 'Aufschwungstendenzen' gibt.

Denn wenn für eine Mehrheit der Beschäftigten der verängstigende Druck sich abgemildert hat, können neue Ansprüche und die Bereitschaft zum Handeln sich entwickeln. Ein wiedererwachtes Selbstbewusstsein, kombiniert mit einem Wissen um die Disponibilität der eigenen Arbeitskraft als 'Lernerfahrung' aus der Krise, könnte die Basis für eine neue Handlungsbereitschaft bilden.


Kampf um die Lebenszeit

Ohne eine neue gesellschaftspolitische Offensive, beispielsweise durch die konsequente Thematisierung der Arbeitszeitfrage als Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit, werden die Klassenorganisationen jedoch aus ihrer Position der Schwäche nicht herauskommen. In der jetzigen Situation gibt es keinen Grund, nicht wieder die Initiative für Arbeitszeitverkürzungen zu ergreifen, die Rückentwicklungen zu bekämpfen und mittelfristig eine wöchentliche Arbeitszeit von 30 Stunden anzustreben. Eine solche Kampagne wird nur erfolgsversprechend sein, wenn gleichzeitig thematisiert wird, dass dies nur ein - gemessen an dem Stand der Produktivkraftentwicklung - Zwischenstadium sein kann. Es muss das Bewusstsein dafür geweckt werden, dass Arbeitszeitverkürzungen jenseits des Kapitalismus in ganz anderen Dimensionen möglich sind! Dadurch wird das Regime von Kauf und Verkauf der Arbeitskraft noch nicht beseitigt, jedoch in Frage gestellt.

Niemand sage, dass solche Perspektiven sich von der aktuellen Problemsituation zu weit entfernen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Denn die bürgerliche Produktivkraftentwicklung hat die Mittel zur solidarischen und selbstbestimmten Gesellschaftsentwicklung, ebenso wie zur umfassenden Bedürfnisbefriedigung, bei gleichzeitiger Reduzierung der Arbeitszeit, längst geschaffen. Gerade weil die historisch gewachsenen Möglichkeiten ungenutzt bleiben, potenzieren sich die sozialen und zivilisatorischen Probleme, schlägt Fortschritt in Niedergang um.

Daran immer wieder zu erinnern, ist von elementarer politischer Bedeutung, weil die herrschende Resignation nur durch die Thematisierung des historisch möglich gewordenen durchbrochen werden kann. Es wäre fatal, die durch eine kapitalistische Lebenspraxis erzeugten Vorstellungsmuster nur einfach fortzuschreiben: Politische Konzepte, die nicht den Horizont des Gegenwärtigen überschreiten, sind weder zukunfts-, noch überzeugungsfähig.

Keine andere Form konkreter Utopie als die einer selbstbestimmten Verfügung über die Lebenszeit ist besser geeignet, den entwickelten Kapitalismus als ein geradezu absurdes System der Fortschrittsverhinderung und daraus folgender fortschreitender menschlicher Selbstunterdrückung zu entlarven, das durch seine destruktive Entwicklungsdynamik beständig mehr zivilisatorische Probleme schafft, als es zu lösen in der Lage ist.


Dr. Werner Seppmann, Haltern


*


Quelle:
Freidenker - Nr. 4-09 Dezember 2009, Seite 12-19, 68. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
Schillstraße 7, 63067 Offenbach
E-Mail: redaktion@freidenker.org
Internet: www.freidenker.de

Erscheinungsweise: vierteljährlich
Bezugspreis jährlich Euro 10,- plus Versand.
Einzelheft Euro 2,50 plus Versand.
(Für die Mitglieder des DFV ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten.)


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2010