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BERICHT/184: Aufruf zum Patientenverfügungsgesetz (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 80/2007 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Aufruf zum Patientenverfügungsgesetz - neue Gemengelage

Durchbruch bei Patientenverfügungsgesetz greifbar nah


Der Humanistische Verband Deutschlands begrüßte in einer Presseerklärung die am 19. Juni 2007 vorgestellte gemeinsame Gesetzesinitiative zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen von Abgeordneten fast aller Fraktionen im Deutschen Bundestag. Dazu erklärte der Bundesvorsitzende Dr. Horst Groschopp: "Im Interesse der Patientinnen und Patienten freue ich mich außerordentlich über die jetzige Entwicklung in der Patientenverfügungsdebatte. Diese politische Annäherung der Parlamentarier quer durch (fast) alle Fraktionen zeigt, dass die Zeit reif ist für ein Patientenverfügungsgesetz, dass den Bürgerinnen und Bürgern ein größtmögliches Selbstbestimmungsrecht einräumen wird. Wichtig ist vor allem, dass die Extremposition einer Reichweitenbeschränkung auf den Sterbeprozess, wie ihn vor allem die christlichen Kirchen befürwortet haben, im Deutschen Bundestag nicht mehrheitsfähig ist."


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Menschenwürde schützt den Menschen auch davor, zum Objekt der Menschenwürdedefinition eines anderen zu werden.
(Prof. Dr. Friedhelm Hufen in: Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens, Neue Juritische Wochenschrift Heft 12/2001, S. 851)

Was war geschehen? Am selben Tag hatten die Abgeordneten Stünker (SPD), Kauch (FDP), Dr. Jochimsen (Linke) und Montag (Grüne) fraktionsübergreifend einen Antrag vorgestellt, in dem große Teile der Vorschläge des HVD Beachtung fanden. Ins Abseits geraten war der vorher von Bosbach (CDU) u.a. eingebrachte Entwurf, der eine so genannte Reichweitenbeschränkung vorsieht. Er will die Verbindlichkeit der vorausbestimmten Patientenautonomie einschränken auf einen bereits bestehenden tödlichen Verlauf, zudem soll selbst dann jeder Behandlungsverzicht einem Vormundschaftsgericht und sogar noch zusätzlich einem "Ethikkonzil" zur Prüfung und Entscheidung vorgelegt werden. Dagegen hatten nicht nur der Humanistische Verband Deutschlands und andere Organisationen aus dem humanistischen Spektrum, sondern auch der Deutsche Juristentag und so gut wie alle Fachgremien und Experten lautstark ihre Stimme erhoben und von Verfassungswidrigkeit gesprochen. Einwände gab es auch seitens der Bundesärztekammer und der Hospizstiftung, die die Beschränkung nur auf bestimmte Situationen wie den Sterbeprozess für zu restriktiv und vor allem als unpraktikabel erklärten.


CDU/CSU zaubert neuen Entwurf aus dem Hut

In dieser Situation hatten die Abgeordneten Zöller (CSU) und Dr. Faust (CDU) nun im Juni einen weiteren, nicht restriktiven, sondern (schein-)liberalen Unions-Gesetzentwurf aus dem Hut gezaubert. Der Zöller/Faust-Entwurf ist somit, neben dem mehr oder weniger gescheiterten von Bosbach und dem von Stünker der dritte Vorschlag. Der maßgeblich auch aus Bayern mitgeprägte Zöller/Faust-Entwurf versteht sich als besonders einfach und unbürokratisch, will auf "Überregulierung" im Einzelfall verzichten und stattdessen auf die klinische Praxis und das ethische Verhalten der Ärzte vertrauen. Er definiert grundsätzlich sowohl den erklärten wie den mutmaßlichen Patientenwillen als verbindlich, eine Schriftform soll gar nicht notwendig sein. Dies alles mag überlegenswert erscheinen - gäbe es da nicht einen entscheidenden "Pferdefuß": Auch bei Vorliegen einer Patientenverfügung muss immer die aktuelle Situation des Patientenwillens ermittelt werden. Dabei sollen laut Zöller/Faust auch Begleitumstände wie z. B. der Stand der medizinischen Entwicklung oder weitere geeignete Kriterien berücksichtigt werden. Und wenn Ärzte dann doch lebensverlängernde Behandlungen "anbieten" (wie es wörtlich heißt) bzw. nach eigenem Ermessen weiterführen wollen, so soll laut Zöller/Faust immer ein Vormundschaftsgericht zur Entscheidung eingeschaltet werden. Der Einfachheit und Offenheit halber verzichtet der neue Unionsentwurf darauf zu erwähnen, nach welchen Kriterien denn dann das Amtsgericht entscheiden soll. Die Deutsche Hospizstiftung kritisiert daran, dass dadurch eigentlich gar nichts geregelt ist.


Neue Unterscheidungslinie: Einschaltung des Vormundschaftsgerichtes

Im vom HVD bevorzugten Entwurf von Stünker u. a. soll das Vormundschaftsgericht nur dann zur Prüfung hinzugezogen werden, wenn Patientenvertreter (Bevollmächtigter bzw. andernfalls Betreuer) und behandelnder Arzt eine Patientenverfügung jeweils unterschiedlich in Bezug auf die konkret vorliegende Behandlungssituation interpretieren. Das Gericht hat dann den Patientenwillen zu ermitteln. Das ist ein deutlicher Unterschied zu dem Kriterium, dass Ärzte eine lebensverlängernde Behandlung anbieten - was sie auf Grund ihrer Garantenpflicht zum Lebensschutz eigentlich immer tun müssten, es sei denn, es läge aufgrund völliger Aussichtslosigkeit definitiv keine medizinische Indikation zur Weiterbehandlung mehr vor.

Alle drei Entwürfe wollen die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung regeln. Die neue Unterscheidungslinie verläuft jetzt nicht mehr am Kriterium Reichweitenbeschränkung ja oder nein (Bosbach- gegen Stünker-Entwurf), sondern am Kriterium: In welchen Fällen ist das Vormundschaftsgericht einzuschalten und wie hat es zu entscheiden (Zöller/Faust- gegen Stünker-Entwurf).

Die Debatte soll nach der Sommerpause fortgesetzt werden. Wenn es zur Abstimmung im Bundestag kommt, wird diese namentlich sein - sodass die Verantwortung jedes einzelnen Mitglieds des Bundestags für alle Bürger nachvollziehbar sein wird.


Wer trägt den Stünker-Gruppenantrag?

Der überarbeitete Entwurf des SPD-Rechtspolitikers Joachim Stünker wurde inzwischen von einer parteiübergreifenden Abgeordnetengruppe vorgestellt, darunter befinden sich jetzt überraschenderweise auch die führenden Politiker der Linken (Gysi, Lafontaine, Bisky), dann von der SPD Stöckel (Bundesvorstandsmitglied des HVD), Dr. Scholz, Schily, Zypries (Bundesjustizministerin), von den Grünen einige Abgeordnete (Ströbele, Montag, Schewe-Gerigk) sowie von der FDP neben Leutheusser-Schnarrenberger und Pfarr fast die Gesamtfraktion der Liberalen. Etwa die Hälfte der SPD-Abgeordneten und vielleicht noch mehr der Grünen-Fraktion gilt als unentschlossen oder als Anhänger eines der beiden anderen Entwürfe. Die Ärztinnen Dr. Volkmer und Dr. Reimann (beide SPD) wünschen den Zusatz im Stünker-Entwurf, dass eine vorangegangene Beratung den Grad der Verbindlichkeit erhöhen soll.


Wertkonservative Agitation

Dennoch ist es richtig, wenn die Ärztezeitung ein Zusammengehen der SPD mit den Oppositionsparteien feststellte. Denn bis heute hat sich (trotz fortgesetzter Angebote und Überzeugungsversuche) nicht ein einziges Mitglied der 225-köpfigen CDU/ CSU Bundestagsfraktion dem Gruppenantrag von Stünker u.a. angeschlossen.

Dabei wird seitens der Union weiter betont und gefordert, dieses angeblich so heikle und ethisch/weltanschaulich umstrittene Abstimmungsverhalten im Bundestag müsse von jeglichem Fraktionsdruck und von Parteidisziplin befreit bleiben. In Wirklichkeit kann von einer sachgerechten und offenen Debatte nicht die Rede sein. Von wertkonservativ-rückwärtsgerichteten und religiösen Kreisen wird - teils wider besseren Wissens - gebetsmühlenartig gegen den Stünker-Entwurf agitiert. Dies war zuletzt auf einer Überblicksveranstaltung in der Katholischen Akademie in Berlin zu erleben. Dort wurde der Stünker-Entwurf vom Bundesvorstandsmitglied des HVD, dem SPD-Abgeordneten Rolf Stöckel auf dem Podium vorgestellt. Der Vorwurf lautet: Verabsolutierung des Selbstbestimmungsrechtes, Automatismus ohne Verantwortung Dritter bei der Ausführung einer früheren Willenserklärung, egal wie die akute Situation sich darstellt. Dabei ist nichts davon zutreffend, wie Stöckel durch Zitieren - allerdings dort eine vergebliche Mühe - unter Beweis stellen konnte. Denn der Stünker-Entwurf geht ebenso wie die beiden anderen von Sorgfaltskriterien und sozialer Verantwortung aus.


Was kann der Einzelne oder ein HVD-Landesverband tun?

Der Bundesvorstand des Humanistischen Verbandes schlägt vor, das Internetforum www.abgeordnetenwatch.de (watch = Beobachtung) zu nutzen. Dort können Bürger Fragen an Abgeordnete ihres Wahlkreises (dort einfach anhand der eigenen Postleitzahl zu ermitteln) stellen. Diese sind dann - zusammen mit den in der Regel auch erteilten Antworten - dort öffentlich einsehbar. Die Fragen können mit einer kurzen Beschreibung der eigenen Lage, Erfahrung oder Auffassung beginnen. Einige haben das bereits getan und fragen z. B., wie denn der oder die Abgeordnete abzustimmen gedenkt, ob er oder sie meint, die Ärzte oder Vormundschaftsrichter sollten doch das letzte Wort haben.

Wer über keinen Internetanschluss verfügt, kann seine Meinungsäußerung oder Frage auch per Post schicken an:
Diesseits-Redaktion, Wallstr. 65, 10179 Berlin.

Wir werden das Schreiben dann in Ihrem Namen (auf Wunsch ohne Wohnanschrift) auf die Internetseite von abgeordnetenwatch.de einstellen. Sie können selbst hinzufügen, an welchen Abgeordneten Ihr Schreiben gehen soll (oder an welche Partei aus ihrem Wahlkreis, wobei natürlich auch oder gerade Abgeordnete der Union anzusprechen sind).

Eine Gegenüberstellung der drei Entwürfe im Wortlaut ist zu finden unter:
www.patientenverfuegung.de/pv/detail.php?uid= 446
(oder bei www.patientenverfuegung.de auf Infodatenbank klicken).

Sie wird auf Wunsch auch von der diesseits-Redaktion per Post zugesandt.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 80/2007, S. 22-23
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. Oktober und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 12,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2007