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BERICHT/208: Alter und neuer Atheismus (ha)


humanismus aktuell Heft 23 - Frühjahr 2009
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Alter und neuer Atheismus

Von Frieder Otto Wolf


In die Debatte um den "neuen Atheismus" möchte ich Klärungen hineinbringen: Erstens möchte ich die Frage entfalten, was es heute bedeuten würde, ernsthaft das historische Erbe des "alten Atheismus" anzutreten. Zweitens möchte ich eine These umreißen - nämlich, dass im "neuen Atheismus", so wie er sich meistens präsentiert, ein bedauernswertes Ausweichen angesichts der wirklich dringenden Fragen unserer Zeit vorhegt. Abschließend werde ich dann meine zentrale Schlussfolgerung aus diesen beiden Befunden begründen: Dass der "neue Atheismus", so erfrischend er auch als mediales Ereignis ist, keine tragfähige Perspektive für die dringend erforderliche Entwicklung eines wirklich zeitgenössischen praktischen Humanismus bieten kann.


Was war der "alte Atheismus"?

Die Frage danach, was denn der "alte Atheismus" gewesen sein mag, den die "neuen Atheisten" jetzt endlich hinter sich gelassen zu haben beanspruchen, ist als solche aufschlussreicher, als zunächst gedacht werden könnte: Mensch könnte zwar denken, es ginge um den der alten Bundesrepublik oder auch den des finsteren 20. Jahrhunderts. Das wäre aber wenig sinnvoll: Da gab es zwar auch noch einen Atheismus, aber der verdankte sein Profil dem einer anderen Zeit - d.h. dem, wie wir mit guten Gründen sagen können, "klassischen" alten Atheismus, der sieh ganz präzise historisch verorten lässt, nämlich im Frankreich des Ancien Régime, vor der großen Französischen Revolution. [1]

Diese These bedarf einer genaueren historischen Abgrenzung. Der Begriff des Atheismus ist selbstverständlich sehr viel älter als die europäische Neuzeit und der Prozess der revolutionären Vollendung des "modernen Staates", dem dieser Atheismus angehört, für den ich hier den Stellenwert des "Klassischen" in Anspruch nehme.

Um diesen alten Atheismus richtig zu verstehen, sollten wir uns daran erinnern, dass in der Antike die Christen als "Atheisten" (atheoi) verschrien gewesen sind: Weil sie nämlich den lokalen Gottheiten den Gottesdienst und die geforderten Opfer verweigerten - bis hin zu den im ganzen Römischen Reich aufgestellten Statuen des vergotteten Kaisers als "Reichsgott". Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Atheismus in der Praxis in der Weigerung besteht, sich den für die Gemeinwesen konstitutiven Gottheiten unterzuordnen und sei es auch nur rein symbolisch, durch Vollzug der entsprechenden Kulthandlungen. [2]

Dieser Begriff des Atheismus als einer "asozialen" Haltung, die sich der Eingliederung in die Hierarchien verweigerte, welche den gesellschaftlichen Zusammenhang ausmachten, ist auch noch im europäischen Mittelalter wirksam geblieben. Das kann ich mit der Art und Weise illustrieren, wie Anselm von Canterbury die Abhandlung eröffnet, in der er seinen "ontologischen Gottesbeweis" entwickelt: "Der Tor sagt in seinem Herzen, es gibt keinen Gott."

Dessen Torheit besteht eben darin, in einer Gesellschaft, in welcher der christliche Gott in die Funktion eingerückt war, welche in der Antike die lokalen Götter und die "vergötterten" Kaiser wahrgenommen hatten: Die symbolische Verdichtung und Verkörperung der bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. Atheist ist dem gemäß, wer sich aus diesen Verhältnissen ausnimmt, also gar nicht begreift, dass auf ihnen die gesellschaftlichen Zusammenhänge beruhen, in und von denen jeder einzelne Mensch lebt - also "ein Tor".

Aber der "klassische Atheismus" im Frankreich des Ancien Régime hat dieses traditionelle Verständnis gesprengt und sich weitaus radikaler begriffen als die Haltung der einfachen Verweigerung der religiösen und rituellen Unterwerfung auch noch unter den einen Gott, der - mit dem Aufstieg des Christentums zur "Staatsreligion" [3] - für "allzuständig" erklärt worden war. Sie haben einen entscheidenden zusätzlichen Schritt vollzogen: Sie haben eine "neue Gesellschaft" postuliert, die nicht mehr auf Hierarchien beruht und daher keinen Gott mehr braucht. [4]

Aufgrund dieser seiner Radikalität ist der klassische alte Atheismus bis heute interessant. Und das hat Konsequenzen auch noch für die heutige Debatte: Wenn jemand schlicht die Frage erörtern will, ob es einen Gott gibt oder vielmehr nicht gibt, dann ist er (und sein Publikum) noch gar nicht zu den Fragen vorgestoßen, die den "alten Atheismus" wirklich ausgemacht und auch wirklich interessant gemacht haben.

Bekanntlich hat sich der Atheismus des 18. Jahrhunderts vom damals bis in hohe staatliche und auch kirchliche Positionen hinein verbreiteten Deismus abgegrenzt, wie er von John Locke bis zu Wolfgang von Goethe formuliert und vertreten worden ist, der für den "Glauben" an ein "höheres Wesen" als unverzichtbaren ideologischen Kitt eintrat, zugleich aber auch allen "Gebildeten" signalisierte, dass sie die Erzählungen über den "persönlichen Gott" des Christentums bzw. die Ansprüche der Kirchen und ihres Personals (über die Aufgaben die damit zusammenhingen, dafür zu sorgen das sich das "einfache Volk" nicht in einen "aufsässigen Pöbel" verwandelte) nicht besonders Ernst zu nehmen brauchten. [5]

Dieser klassische Atheismus des 18. Jahrhunderts, darin folge ich der Darstellung Michel Onfrays in seiner Athéologie (seiner Lehre vom systematisch dargestellten Atheismus [6]), war das Werk einer kleinen Gruppe radikaler Aufklärer, die heute ziemlich weitgehend verdrängt und vergessen sind.

Es waren dies vor allem der Gemeindepfarrer Abbé Meslier, der seiner Gemeinde drei Exemplare einer ersten umfassende Darstellung eines anarchistischen und kommunistischen Atheismus hinterlassen hat; der aus Deutschland nach Paris gekommene Baron d'Holbach, dem es gelungen ist, diesen neuen Atheismus in die Pariser Salons und in die europäische Öffentlichkeit zu bringen; der Arzt Helvétius, dem es gelang, aus dem Atheismus und Materialismus eine Orientierung für die Weiterentwicklung der Wissenschaften zu gewinnen; sowie die an Helvétius sich vielfältig anschließenden so genannten Idéologues, die es im Frankreich der Revolutionszeit unternommen haben, diesen Ansatz auf eine Weise zu systematisieren, dass damit durchaus "Staat zu machen" gewesen wäre, ohne noch auf Gott zu rekurrieren. [7]

Diese Gruppe hat aus dem "älteren Atheismus", aus der schlichten individuellen Verweigerungshaltung gegenüber den lokalen Gottheiten bzw. gegenüber dem gleichsam verallgemeinerten einen Gott [8], der zur Staatsgottheit aufgestiegen war, eine sehr viel spezifischere und sehr viel spannendere philosophische These entwickelt: Nämlich die These, dass menschliche Gesellschaftlichkeit keiner göttlichen Garantien bedarf - eben weil eine Gesellschaft von Menschen auch als eine Gesellschaft von Freien und Gleichen möglich ist.

Wir sollten allerdings die historische Spezifik dieser eindrucksvollen Denkoperation nicht aus dem Auge verlieren: Indem sie ihren denkerischen Stoß gegen den Gott des Ancien Régime richteten, wie es auf dem europäischen Kontinent herrschte - das auf einem Umbau der Feudalität zu einem relativ straffen und zentralisierten Herrschaftssystem beruhte, in dem Adlige als Offiziere, Politiker, Behördenleiter und auch als Priester die wesentlichen Leitungsfunktionen besetzten - griffen sie eine der letzten historischen Gestalten persönlich begründeter und vermittelter Herrschaftsverhältnisse an, die des "Gottglaubens" der Massen dringend bedurfte und dafür Kirchen und Priester als ideologische Kittfabrikanten einsetzte.

Mit dieser Stoßrichtung war ein radikaler herrschaftskritischer Impuls an eine historische Gestalt adressiert, welche bereits im Begriff war, durch die grundlegend sachlich begründeten und vermittelten Herrschaftsverhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise in einem längeren Umwälzungsprozess abgelöst und verdrängt zu werden.

Aber sie haben in diesem Konstruktionsprozess immerhin den radikalen Gedanken ausgearbeitet, dass Herrschaft von Menschen über Menschen grundsätzlich zu überwinden ist - indem die gleiche Freiheit aller Menschen, ohne Ausnahmen und Ausgrenzungen, mit umfassender und allseitiger Aufklärung aller verknüpft wird.

Diese Verknüpfung lag damals wohl offenbar auf der Hand - wie dies in ihrer klassischen Formulierung durch Kant (in seiner kleinen Schrift Was ist Aufklärung?) deutlich wird. Es geht um das "Herausgehen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit". Das schließt selbstverständlich ein, sich auf das erreichbare wissenschaftliche Wissen zu stützen, um abergläubische Vorstellungen und Vorurteile über die zur Verhandlung stehenden Angelegenheiten abzustreifen. Aufklärung ist also in diesem Zusammenhang nicht nur eine rein intellektuelle Übung, gleichsam als Selbstzweck, sondern vor allem eine zentrale Bedingung von Befreiung.


Bedeutung für die Gegenwart

Daher denke ich, erstens, dass wir heute allen Grund dafür haben, diese Tradition des klassischen Atheismus wieder aufzugreifen und neu zu beleben. Denn dort ist tatsächlich ein Atheismus entwickelt worden, der nicht aus Geschichte und Gesellschaft gleichsam "ausstieg", sondern historisch und politisch wirksam war und dies - so weit jedenfalls, wie Konstellationen wie das konterrevolutionäre "Bündnis von Thron und Altar" weiterhin persönlich begründete Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten versuchen - bis in die Gegenwart wirksam blieb.

In dieser Wirksamkeit hat der klassische Atheismus jedenfalls in Europa tiefgreifend das "kollektive Unbewusste" und die herrschenden Stereotypen geprägt. Jeder kennt wahrscheinlich das scharfe Bild, das schon Abbé Meslier für die zentrale politische These dieses Atheismus gefunden hat: Freiheit sei erst dann erreicht, wenn der letzte Priester an den Gedärmen des letzten Adligen erhängt worden sei. D.h. für eine wirkliche Befreiung der Menschheit ist es erforderlich, einen radikalen Bruch mit dem bestehenden Herrschaftssystem zu vollziehen und das wird nur gelingen, wenn es auch zu einem ebenso radikalen Bruch mit dessen ideologischem Kitt kommt.

Diesen Kerngedanken des klassischen Atheismus möchte ich für unsere heutige Debatte in Erinnerung rufen. Ein relevanter "neuer Atheismus" kann und darf sich um die Frage der Herrschaftskritik einfach nicht herumdrücken.

Außerdem möchte ich ernsthaft die Frage aufwerfen, ob es wirklich im Sinne dieses unausschlagbaren Erbes sein kann, wenn etwa Michel Onfray mit Jeremy Bentham und John Stuart Mill zwei britische Radikalliberale als den eigentlichen Abschluss dieser Tradition begreift. Denn die englische und z.T. auch britische Entwicklungslinie, in der sich die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in der industriellen Revolution entfalten sollte, unterscheidet sich zum einen seit dem 17. Jahrhundert deutlich von der historischen Entwicklung des Ancien Régimes in Frankreich und auf dem europäischen Kontinent und zum anderen (und vor allem) gibt es gute Gründe für die Auffassung, dass die unter der von ihnen artikulierten philosophischen Orientierung heraufziehende "neue Gesellschaft" selbst herrschaftlich strukturiert ist - wenn auch nicht mehr in erster Linie in Gestalt persönlicher, sondern prinzipiell in Gestalt sachlich vermittelter Herrschaftsverhältnisse, in den sich historische Formen wie Ware, Geld und Kapital gegenüber den handelnden Menschen verselbständigen. [9]

Diese gemäß Marx' Kritik der politischen Ökonomie sachlich vermittelte Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise setzt sich in den revolutionären Umwälzungen im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in Kontinentaleuropa in allen gesellschaftlichen Verhältnissen durch und prägt die zunächst noch national verfassten Ökonomien. Das ist sicherlich Anlass für die ernsthafte Frage, ob der alte Atheismus nicht vielleicht doch über Bentham und J. S. Mill hinausgehend von Bedeutung ist.

Ich denke in der Tat, dass es heute wieder einmal darum geht, an die befreiende Tradition des alten Atheismus anzuknüpfen. Aber das setzt eben voraus, dass wir die Aufgabe erkennen und dass es uns gelingt, dessen radikal befreienden Impuls in eine historische Lage zu übersetzen, in der uns nicht mehr das Herrschaftssystem des Ancien Régime gegenüber steht - und damit auch nicht mehr die Priester im Zentrum der ideologischen Herrschaftsapparate wirken (wer das immer noch glaubt, versteht einfach unsere Welt nicht). Coca-Cola Culture, Walt Disney, Hollywood, die gesamte Kulturindustrie, produzieren heute mit ganz eigener Wucht ideologischen Kitt - auch wenn sie dabei u.a. auch Motive und Figuren aus der christlichen Tradition recyceln und (wo immer es aus Marketing-Gründen als sinnvoll erscheint) auf christliche Denkfiguren Rücksicht nehmen.

Ein wirklich zeitgenössischer Atheismus muss diese gegenüber dem vorrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts grundlegend veränderte historische Lage bedenken und berücksichtigen. D.h. er muss seine Kritik über die persönlichen Herrschaftsverhältnisse hinaus entwickeln, wie sie der alte Atheismus noch vor Augen gehabt hat. Daraus ergeben sich vor allem zwei Aufgaben:

Erstens eine Kritik des modernen Staates als einer gegenüber den gesellschaftlichen Menschen verselbständigten politischen Herrschaftsform, die sich sachlich rechtsförmig reproduziert. Dieser ist - als "totaler Staat" - im 20. Jahrhundert mit Formen der Schreckensherrschaft aufgetreten, wie sie in der Menschheitsgeschichte vergeblich etwas wirklich Vergleichbares suchen - und zwar ohne erkennbare religiöse Grundlagen. [10]

Zweitens eine kritische Auseinandersetzung mit den sachlichen, d.h. ökonomischtechnischen Herrschaftsmomenten in der Art und Weise, wie in der weltweiten Konstellation der gegenwärtigen Gesellschaften das Wirtschaften vorrangig "kapitalistisch" organisiert ist.

Diese Auseinandersetzung ist heute unbedingt zu führen, auch ohne sich dabei auf die Traditionslinien von Anarchismus und Marxismus einzuschränken bzw. sogar unter ausdrücklicher Überwindung ihrer inzwischen bekannten Fehler - etwa des Antipolitizismus und Voluntarismus in der anarchistischen und des Ökonomismus und Geschichtsdeterminismus in der marxistischen Tradition.

Dazu trägt es nichts bei, sich kritisch mit der Rolle des Papstes in der europäischen Massenkultur oder der evangelikalen Sekten in der "christlichen Rechten" der USA auseinanderzusetzen. Selbstverständlich ist das nicht einfach unwichtig. Es trägt nur zu der zentralen Aufgabe nichts bei, vor der wir heute stehen - nämlich den Befreiungs- und Aufklärungsimpuls des alten Atheismus ganz dringend in die heutige historische Lage zu übersetzen. Allein dadurch werden wir uns dazu in die Lage versetzen, das große Erbe des alten, klassischen Atheismus wirksam anzunehmen und dauerhaft weiterzuentwickeln.


"Neuer Atheismus" als Ausweichkonzept

Die Lektüre von Büchern wie Richard Dawkins Gotteswahn mobilisiert bei mir keinen besonderen Widerspruch. Sein Plädoyer gegen einen "übernatürlichen" Gott ist gut argumentiert, konsequent und überzeugend. Gut, dass jemand in Erinnerung ruft, dass der Atheismus eine vernünftige Antwort auf die "Gottesfrage" hat.

Seine weitere These allerdings, dass Atheismus bereits ein Zeichen geistiger Gesundheit sei, finde ich gar nicht so einleuchtend. Zumindest unter den abfälligen Gläubigen fallen mir durchaus Gegenbeispiele ein. Außerdem lese ich mit noch größerer Zustimmung, weil es um weniger Elementares, um nicht zu sagen Triviales, geht, die Bücher von sehr religiös gläubigen Befreiungstheologen wie Enrique Dussel, Ulrich Duchrow, Franz Hinkelammert oder auch Kuno Füssel.

Ist das nun ein Widerspruch in meinem Kopf, also eine Art von Denkschwäche?

Wenn es denn richtig ist, dass hinter den gegenwärtig sich anbahnenden, ganz realen Katastrophen - ich erspare dem Leser hier die Aufzählung - die anhaltende und sogar erneut "entfesselte" Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise steckt, dann muss hier ein Schlüssel für dieses Problem liegen. Dann wäre es ein Problem, das nicht in meinem Denken liegt, sondern sich aus der Struktur der gegenwärtigen Wirklichkeit ergibt.

Selbstverständlich ist diese Struktur nicht als ein geschlossenes System zu denken - auch nicht als totale Determinante, deren Ergebnisse auf eine Weise feststehen, die von einer theologischen Prädestinationslehre nicht wirksam zu unterscheiden wäre, aber doch als real existierende materielle Bedingungsstruktur, die festlegt und vorgibt, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen "die Menschen ihre Geschichte selber machen" können.

Und diese Struktur der heutigen historischen Wirklichkeit erschließt sich offenbar nicht so einfach dem sich auf die Naturwissenschaften berufenden Modell einer empirischen Untersuchung, wie dies Dawkins vertritt. Mit dem einigermaßen paradoxen Ergebnis, dass nicht nur empiristische ökonometrische Untersuchungen der gegenwärtigen Kapitalakkumulation, aber auch explizit theoretisch reflektierte "soziobiologische" Untersuchungen über Wettbewerb und Kooperation, den Charakter von quasi-theologischen Projektionen annehmen.

Explizit theologisch argumentierende Untersuchungen dagegen, wie dies die von Enrique Dussel vorgenommene Rekonstruktion des Marxschen Kapitals so weit überzeugend zeigt, produzieren wichtige Erkenntnisse über die Wirklichkeit, in der wir immer noch leben. Nur vor diesem Hintergrund ist auch zu begreifen, dass Theodor W. Adorno, obwohl er viele der methodologischen Argumente Karl Raimund Poppers einfach ignorierte, vielleicht auch gar nicht verstehen wollte, in einem derart "metaphysisch" anmutenden Werk wie seiner negativen Dialektik so viel Mehr und Tieferes über die zeitgenössische deutsche Wirklichkeit erkennen ließ, als dies etwa Helmut Schelsky in seinen Untersuchungen über die angebliche "skeptische Generation" gelungen war (welche sich dann z.T. als die tragende Generation der aktivistischen 1968er entpuppen sollte).

Dawkins und die "neuen Atheisten", die ihm folgen, verschließen die Augen davor (bzw. sie sind in der Hinsicht einfach im Wortsinne "ahnungslos"), dass das Kapital in seiner über den "freien Markt", den Verkauf und Ankauf der Ware Arbeitskraft vermittelten Struktur in seiner Wirklichkeit einige "theologische Mucken" aufweist, reale Widersprüche, Paradoxien und Widersprüche, die sich einem an den Naturwissenschaften geschulten (und spontan von liberalen Lebenserfahrungen einer über eigenes Vermögen verfügenden "Mittelschicht" geprägten) Common Sense durchaus entzieht.

Geschulte Theologen, über deren Fähigkeit mit Widersprüchen umzugehen, sich Dawkins nur ganz abfällig äußert, sind offenbar - nur wenn sie wollen, denn Befreiungstheologen sind wohl nicht zufällig eine kleine, radikale Minderheit - in der Lage, diese Fähigkeit in den Dienst einer triftigen Kritik an diesen paradoxalen Verhältnissen zu stellen.

Dabei bleibt selbstverständlich ein Problem: Wenn Wolf Biermann seiner Oma Meume den Stoßseufzer in den Mund legte "Ach Gott, lass DU den Kommunismus siegen!", brachte er damit eigentlich schon das historische Scheitern dieses politischen Projektes zum Ausdruck. Denn eine Befreiung der Menschen von der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise, die nur dadurch zustande kommt, dass ein "höheres Wesen" ihnen die Aufgabe des "Selbertuns" abnimmt, kann gar keine wirkliche Befreiung sein.

Dass dieser Stoßseufzer überhaupt so formuliert werden konnte, lässt bereits erkennen, dass in der Fassung eines radikalen Befreiungsprojektes, wie sie dem historischen Kommunismus des 20. Jahrhunderts zugrunde lag, auf den sich Biermann bezog, irgend etwas falsch war. Aber auch wenn das nur methodologisch gelten sollte - also nur die (kontrafaktische) "Gotteshypothese" benötigt würde und nicht die Intervention eines übernatürlichen Wesens, wäre dies selbstzerstörerisch.

Die Selbstaufopferung der menschlichen Vernunft in der Unterwerfung unter eine derartige Hypothese, für die in der Tat gar nichts spricht (wie Dawkins dies aktualisierend ja zusammengefasst hat) kann jedenfalls auf Dauer kein geeigneter Ausgangspunkt für eine radikale Politik der Befreiung sein - auch wenn es manchmal von Nutzen ist, sich dem Sog des herrschenden Common Sense einfach dadurch zu entziehen, dass Menschen sich auf "höhere Wahrheiten" beziehen.

Dieses Problem muss dringend bearbeitet werden. Dazu ist vor allem zu klären, wie sich die "theologischen Mucken" der kapitalistischen Wirklichkeit kritisch begreifen lassen, auch ohne sich dabei selber theologischer Krücken zu bedienen. Die weltweit in dem letzten Jahrzehnt erneut einsetzende Lektüre von Marx' Kapital ist schon dabei, hierzu wichtige Klärungen zu produzieren - beginnend mit einem Verständnis von kritischer Sozialforschung, das über empiristische Modelle hinausgeht, wie sie (übrigens durchaus zu Unrecht) aus den Naturwissenschaften legitimiert werden und nicht endend mit einem sowohl expliziten, als auch hinreichend komplexen (und selbstverständlich als solchem "widerspruchs"- und "theologie"-freien) Verständnis einer materialistischen Dialektik, die mit realen Widersprüchen produktiv umgehen kann.

Auf diese Weise wäre es dann völlig rational denkbar, sowohl etwa an Dawkins Aktualisierung von Atheismus und Materialismus als auch etwa an Enrique Dussels theologisch gestützter "Philosophie der Befreiung" durchaus theoretisch begründet Gefallen zu finden.

Statt sich auf die Bekämpfung der theologischen "Gottesfrage" zu kaprizieren, sollte vor allem eine Erneuerung der kritischen Wissenschaften von Geschichte und Gesellschaft vorangetrieben werden, die weder hinter das methodologische Selbstverständnis der zeitgenössischen Naturwissenschaften zurückfällt, noch in ihrer Theoriebildung und ihren Untersuchungsmethoden die reale Struktur kapitalistischer (bzw. auch patriarchalischer, industrialistischer oder imperialer) Herrschaftsverhältnisse verfehlt.

Dazu trägt Dawkins aber nichts bei und die "neuen Atheisten", sofern sie sich nicht von dem längst ziemlich unwichtig gewordenen Gottesthema lösen, erst recht nichts - bei Dawkins kann wenigstens noch ein zeitgenössisches Verständnis von Wissenschaft gelernt werden  ...


Schlussfolgerung für praktischen Humanismus

Ein konsequent zeitgenössischer und praktischer Humanismus muss sich dadurch bewähren, dass er dazu beiträgt, das Anpacken der dringenden Herausforderungen zu erleichtern und zu unterstützen, vor denen jeweils eine vernünftige menschlicher Praxis steht.

Die Reformulierung, die der junge Marx einst an dem kategorischen Imperativ - als dem zentralen Prinzip jeder vernünftigen Praxis - vorgenommen hat, bleibt immer noch wegweisend: "Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".

Wohlgemerkt, damit weiche ich nicht ins bloß Normative aus:

Dieser Imperativ schließt ja notwendigerweise die Aufforderung mit ein, diese Verhältnisse konkret und spezifisch daraufhin zu begreifen, dass und wie es möglich wird, sie "umzuwerfen", und zugleich die Handlungsfähigkeit, richtig verstanden auch die erforderliche Macht, aufzubauen, um eine derart realitätstüchtige Umwerfungsstrategie eben auch erfolgreich umsetzen zu können. Und ich wechsele auch nicht dogmatisch oder doktrinär auf das Terrain der marxschen Theorie (oder gar des Marxismus) hinüber: Der junge Radikalliberale und Radikaldemokrat, der diese Fassung des kategorischen Imperativs formuliert hat, hatte die Ausarbeitung seiner Kritik der politischen Ökonomie als das Kernstück seiner Arbeit an einer "denkenden Wissenschaft" insgesamt noch vor sich.

Auch seine wichtigsten philosophischen Initiativen und Vorstöße, die diese wissenschaftliche Arbeit vorbereitet, begleitet und perspektivisch verlängert haben, sollten erst später ergriffen werden. Seine Reformulierung des kategorischen Imperativs macht uns aber schon darauf aufmerksam, dass eine vernünftig zu begründende Praxis zumindest zweierlei leisten muss:

Sie muss erstens die Realitäten der Verhältnisse begreifen, die authentisch moralischen Verhältnissen zwischen den Menschen entgegenstehen - und zwar auf deren Überwindbarkeit hin. Und sie muss sich zweitens eine Quelle der Handlungsfähigkeit und der Macht erschließen, auf deren Grundlage diese grundsätzliche Veränderbarkeit und Überwindbarkeit zu einer real zu verwirklichenden Möglichkeit wird.

Damit wird vernünftige Praxis politisch: Nicht in dem Sinne, dass sie etwa moralische Argumente fallen ließe, sondern in dem Sinne, dass sie sich nicht moralischen Urteilen allein zufrieden gibt [11], sondern sich deren wirkliche Umsetzung vornimmt - auf der Grundlage einer illusionslosen Erkenntnis der wirklichen Lage und einer wirksamen Strategie zu deren Veränderung.

Auch ohne vorab schon festzulegen, wohin diese Anforderungen heute im einzelnen führen werden, lässt sich immerhin festhalten, dass ein praktischer Humanismus heute in genau diesem doppelten Sinne politisch, also mehr als bloß moralisch, sein muss.


Vortrag, gehalten auf der Tagung "Neuer Atheismus" und moderner Humanismus in Berlin am 25. April 2008


Anmerkungen

[1] Damit soll nicht etwa die Existenz anderer historischer Formen des Atheismus bestritten, sondern nur behauptet werden, dass sie in der frühen Neuzeit ihre historische Bedeutung erst als Elemente einer Vor- und einer Wirkungsgeschichte dieses "klassischen" Atheismus gewinnen. Das gilt auch für die durchaus interessante Geschichte des Zusammenhanges zwischen dem Atheismus und dem Fortschritt der Naturwissenschaften etwa im Deutschland des 19. Jahrhunderts.

[2] zeitgenössischen Philosophen, die sich längst von jeder Unterordnung unter derartige Götter verabschiedet hatten - ob und wie weit der Begriff des "Glaubens" in die Antike rückprojiziert werden darf, ist grundsätzlich zweifelhaft - sahen durchweg kein Problem darin, derartige soziale Anforderungen in der Praxis zu erfüllen.

[3] In diesem Aufstieg zur "Staatsreligion" liegt ein wichtiges "Alleinstellungsmerkmal" des Christentums gegenüber Judentum und Islam, die einen vergleichbaren Aufstieg niemals vollzogen haben bzw. ihn - als für ihre konkreten Gemeinwesen rituell konstitutive Religionen - nicht zu vollziehen "brauchten".

[4] Daniel Guérin hat diese Grundhaltung auf eine prägnante Formel gebracht: "Ni Dieu, ni Maitre!", weder Gott noch Herr.

[5] Goethe hat auch dies sehr schön formuliert: "Wer da hat Wissenschaft und Kunst, der hat Religion. Wer es nicht hat, der habe Religion."

[6] Onfray hätte es verdient gehabt, als ein Erneuerer des Atheismus auch in Deutschland rezipiert zu werden. Aber die (keineswegs nur sprachlichen) Rezeptionshürden für die französische Debatte sind eben höher als gegenüber der US-amerikanischen.

[7] Dabei haben sie in sehr vielem die Differenzierungs- und Kompatibilisierungsleistungen vorweggenommen, welche Wissenschaften und Philosophie im Hinblick auf Geschichte und Gesellschaft noch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch beschäftigen sollten.

[8] Der Übergang vom "Henotheismus", dem Glauben an faktisch einen Gott, etwa des eigenen Stammes, zum "Monotheismus", dem Glauben an einen Gott mit einem weltweit geltenden "Monopolanspruch", war für den okzidental-orientalischen Kulturzusammenhang von nachhaltig großer Bedeutung (wie dies Jan Assmann mit Recht betont hat. M.E. ist erst mit dem klassischen Atheismus des Ancien Régime das atheistische Denken auf das damit vorgegebene Niveau aufgestiegen.

[9] Es war gewiss kein Zufall, dass gerade Abbé Meslier als radikaler Atheist zugleich auch ein "kommunistischer" Kritiker des Privateigentums gewesen ist.

[10] Der Versuch, die Ideologien der von modernen Staaten betriebenen "Massenbewegungen" als "politische Religionen" zu diagnostizieren (Voegelin), lenkt von dem eigentlichen Problem ab, dass es nicht Archaismen gewesen sind, sondern wirklich moderne und modernisierende Staaten, die dafür verantwortlich waren.

[11] Der Imperativ heißt eben nicht, "lasst uns alle Verhältnisse für schlecht erklären, in denen", sondern er verlangt eine realitätstüchtige Strategie, sie wirklich "umzuwerfen".


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 23 - Frühjahr 2009, Seite 19-26
Hefte für Kultur und Weltanschauung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2009