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BERICHT/212: Berlin hat abgestimmt (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 87/2009 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Berlin hat abgestimmt

Von Peter Adloff


Ganz Berlin? Für über 70 Prozent der abstimmungsberechtigten Berliner und Berlinerinnen war die Frage, mit welchem Status Religion an der Berliner Schule unterrichtet wird und ob Ethik ein verbindliches Fach in der Sekundarstufe I bleibt, kein Grund, sich an der Abstimmung zu beteiligen. Dennoch ist das Ergebnis großartig.


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Für Menschen, die nicht aus persönlichen oder politischen Gründen an Fragen des Religionsunterrichts und des Verhältnisses von Staat und Kirche interessiert sind, war die Fragestellung schwierig nachzuvollziehen und von geringer Bedeutung. Allerdings, so lässt sich vermuten, wäre die Beteiligung noch geringer gewesen, wenn nicht in den Wochen vor der Volksabstimmung die Kontrahenten, also die Initiative Pro Reli im Bündnis mit Kirchen und CDU und FDP einerseits und das breite Bündnis Pro Ethik andererseits für Aufmerksamkeit und Aufklärung gesorgt hätten. Letzteres gilt vor allem für die engagierte Öffentlichkeitsarbeit von Pro Ethik, und zwar gegen die Tendenz vieler Medien, offen oder unterschwellig für das Anliegen von Pro Reli zu werben.

Als sich das geringe Interesse in den letzten Wochen vor der Abstimmung abzeichnete, wurde auch deutlich, dass die Pro Reli Seite ihr Ziel vermutlich nicht erreichen würde. Denn nach dem Berliner Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid muss eine Initiative nicht nur die Mehrheit der Wähler für sich gewinnen, sondern diese müssen auch in absoluten Zahlen mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten (also 611.422) ausmachen.


Deutliche Mehrheit für Status quo

Im Januar 2009 hatte die Initiative Pro Reli, die in der Öffentlichkeit als eigenständige Gruppe agierte, 307.000 Unterschriften für ihr Anliegen gesammelt. Obwohl es in der Evangelischen Kirche auch Stimmen gab, die von der politischen Machtprobe abrieten, setzten die Führungen der christlichen Kirchen dann durch, mit viel Kirchensteuergeld, Werbeagentur und medialer Unterstützung den Volksentscheid zu ihrer Sache zu machen. Immerhin haben die beiden Kirchen in Berlin über 900.000 Kirchensteuerzahler, und vermutlich hat die Führung auch darauf gesetzt, dass durch den Zuzug nach Berlin von jährlich etwa 40.000 Menschen, speziell aus den alten Bundesländern, genug Sympathisanten da sind, für die Religion als "ordentliches Unterrichtsfach" zur selbstverständlichen Tradition gehört. Das Ergebnis ist bekannt.

Was dann allerdings doch sehr überraschte, war eine Mehrheit von 51,3 Prozent Nein-Stimmen. Nein zu stimmen hieß in diesem Fall, für einen Ethikunterricht in den Klassen 7-10 zu stimmen und für freiwilligen Religionsunterricht in allen Jahrgangsstufen. Insofern war die Abstimmung keine Absage an Religionsunterricht überhaupt, sondern für ein Unterrichtsmodell, bei dem Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die Möglichkeit behalten, im Rahmen der Schule ein freiwilliges Angebot zu machen, zugleich aber für die Altersgruppe, in der Identitätsfragen wichtig sind und massive Abgrenzungen untereinander in den Vordergrund treten, durch ein gemeinsames Fach zu ethischen Fragen einer Bedrohung des Zusammenlebens mit unterrichtlichen Mitteln zu begegnen.


Andere Erwartungen an Kirche

Im Bündnis Pro Ethik waren religiöse und nichtreligiöse Menschen, gesellschaftliche Organisationen und Parteien vereint. Das gemeinsame Ziel und die aktive Toleranz gegenüber den Unterschieden untereinander machte dieses Bündnis möglich. So kamen viele zusammen: Christen, die sich über das herrschaftliche Auftreten der Kirchenführung ärgerten und Bündnisse zwischen "Thron und Altar" ablehnen, Lesben und Schwule, die im Fach Ethik die Möglichkeit haben, Unterrichtsprojekte gegen Homophobie zu initiieren, Parteienvertreter, die der Gefahr von Desintegration und Parallelgesellschaften entgegenarbeiten wollen, viele andere und nicht zuletzt der Humanistische Verband.

Insofern wurde im Bündnis das praktiziert, was auch das Fach Ethik leisten soll: Unterschiede können bereichern und zugleich sind faire Bündnisse möglich.

Nun, nach ihrer Niederlage, behaupten die Kirchenführungen, eine wichtige Diskussion angestoßen zu haben. In der Tat sind die in den letzten Monaten öffentlich diskutierten Fragen wichtig: In welchem Umfang ist die Schule in der Lage, auf Probleme, die zunächst durch soziale Konflikte, aber dann auch durch kulturelles Nebeneinander ausgelöst werden, mit ihren Mitteln zu reagieren? Gehören Religionen und Weltanschauungen zur Zivilgesellschaft, in der die Grundlagen demokratischen Handelns gelegt werden müssen, und ist eine Kooperation mit schulischer Werterziehung möglich, ohne die friedensstiftende Trennung von Staat und Religion zu unterlaufen? Wie kann in einer Einwanderungsgesellschaft die Religionsfreiheit auch für Menschen nichtchristlicher Religionen sichergestellt werden, ohne die Sorgen zu ignorieren, fundamentalistischen Richtungen z.B. im Islam Freiräume zu gewähren, in denen nicht die Grundwerte des Zusammenlebens, sondern die Verachtung Andersdenkender befördert werden?

Die Behauptung allerdings, dass Pro Reli und die Kirchenführungen diese Diskussion produktiv initiiert hätten, ist lächerlich. "Mich ärgert", schreibt der bekannte Schriftsteller und Rechtsprofessor Bernhard Schlink, "was Pro Reli macht, weniger als Juristen, denn als Christen. Mich ärgert, dass meine Kirche politischen Kampf auf diese Art und Weise führt. Ich erwarte von ihr etwas anderes. Ich hatte gehofft, die Kirchen würden für ihr politisches Engagement eine wahrhaftigere Sprache finden."


Von Selbstkritik keine Spur

Auch nach dem Abstimmungsergebnis ist von der Kirchenführung keinerlei Selbstkritik zu hören. Großspurig fordern sie mehr Einfluss auf die religionskundlichen Inhalte des Ethikunterrichts. Zwar war von Anfang an im Curriculum die Empfehlung zur Kooperation mit Religionen und Weltanschauungen enthalten; das ist aber etwas ganz anderes als die Behauptung der Kirchenführungen, dass über ihre Religion nur jemand den Schülern etwas erzählen könne und dürfe, der selbst gläubig ist.

Unser Berliner Verband war mit seinem Fach "Humanistische Lebenskunde" in alle Auseinandersetzungen involviert; Lebenskunde ist nach evangelischem Religionsunterricht das zweitgrößte freiwillige Angebot an den Berliner Schulen. Humanistische Lebenskunde ist nach ihrem Selbstverständnis nichts, was sich erübrigt, wenn es staatlichen Ethikunterricht gibt, und zieht seine Existenzberechtigung auch nicht aus der An- oder Abwesenheit von Religionsunterricht. Der HVD hat sich in den Auseinandersetzungen der letzten Monate mit einer eigenständigen Position profiliert:

• Dass Humanistische Lebenskunde schulrechtlich ein Bekenntnisfach ist, heißt nicht, dass wir mit den anderen Bekenntnisfächern gemeinsame Sache machen, wenn unsere eigenen Überzeugungen dagegen stehen. Die klare Unterscheidung zwischen Schulpflicht und freiwilligen Angeboten muss für Schüler und Eltern immer deutlich sein; darüber hinaus sind wir der Überzeugung, dass die Eigenheiten eines "ordentlichen Unterrichtsfachs" wie z.B. Noten, Versetzungsrelevanz, verbindliche Stoffpläne usw. für die Behandlung von Sinn- und Moralfragen nicht förderlich sind. Darum muss ein freiwilliges Angebot nicht weniger professionell sein. Die Rahmenlehrpläne aus Berlin und Brandenburg sind ein Indiz dafür.

• Der HVD hat als engagierter Bündnispartner viel Ansehen gewonnen als eine gesellschaftliche Gruppe, die einerseits klare gemeinsame Überzeugungen hat, sich aber zugleich den Aufgaben, das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen zu fördern, stellt. Lebenskundelehrer, die den größten Teil der Aktivitäten des HVD getragen haben, haben gezeigt, dass ihnen nicht nur das Wohl des eigenen Fachs am Herzen liegt, sondern dass sie über den bildungspolitischen Tellerrand gucken - allen Klischees zum Trotz, dass Lehrer nur an Fragen des Gehalts und der Ferienregelung interessiert seien.

Die Erfahrungen, die wir in dieser Auseinandersetzung gemacht haben, sind ermutigend. Das Potenzial sollten wir nicht verspielen, indem wir Gläubige zu "folgsamen Schafen" und Atheisten zu "den Guten" erklären.


Peter Adloff ist Bildungsreferent bei HVD Berlin


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In "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" schreibt Theodor Fontane: "Sie wissen alles, sie lassen niemand zu Worte kommen und unterbrechen jeden. Die Berliner sind sehr witzig und haben bis zu einem hohen Grade die Fähigkeit ausgebildet, die lächerlichen Seiten einer Sache herauszufühlen. Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner."


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 87 2/2009, S. 14-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2009