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BERICHT/217: Straßenkind für einen Tag (diesseits)


diesseits 1. Quartal, Nr. 90/2010 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Straßenkind für einen Tag
Die zwei Seiten der Kinderarmut

Von Töns Wiethüchter


Berlin - Schülerinnen und Schüler der Neuköllner Richardgrundschule traten am 20. November 2009, dem Jahrestag der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention, vor dem Rathaus Neukölln lautstark für Kinderrechte ein.


Ein langsam anschwellender Ruf schallt über den Platz vor dem Rathaus in Neukölln und übertönt den Straßenlärm. Die Klasse 5a der Richardgrundschule macht sich bereit für einen ungewöhnlichen Schultag. Sie klatschen in die Hände und motivieren sich für eine Aktion, die sie für einige Stunden in die Haut von Straßenkindern schlüpfen lässt. Ihr Plan: An einem Tag öffentlich für die Einhaltung der Kinderrechte zu streiten. Unüberhörbar, unübersehbar.


"Ooooooooooh - Kinderrechte!"

Schwer bepackt machen sie sich zu Fuß von ihrer Schule auf - im Gepäck selbst gestaltete Bauchläden, die mit Informationsmaterial, Streichholzschachteln, Aufklebern, Buttons und Kekstüten, auf denen Texte der Kinderrechte stehen, gefüllt sind. Im Lebenskundeunterricht hatte sich unter der engagierten Leitung der Lebenskundelehrerin Susan Navissi und unterstützt von der Klassenlehrerin Heike Deleré eine aktive Gruppe gebildet. Heute sammeln sie Spenden, putzen Schuhe, tanzen zu Hip-Hop-Musik, spielen Theater, verkaufen ihre Kinderrechtstüten, verteilen Informationen und sprechen Leute an.

Der Termin für die Aktion wurde nicht zufällig gewählt: Genau vor 20 Jahren, am 20. November 1989, wurde die Konvention für Kinderrechte von der UN-Vollversammlung angenommen und in der Folge von fast allen Ländern der Welt ratifiziert - nur die USA und Somalia haben noch nicht unterzeichnet.

Die Kinderrechtskonvention garantiert allen Kindern dieser Welt grundlegende Rechte. Scheinbare Selbstverständlichkeiten: Sie schützen Kinder vor Kriegen und Ausbeutung, vor Gewalt und sexuellem Missbrauch. Alle Kinder haben das Recht auf Bildung, auf den Zugang zu Informationen, ja auf Freizeit, freie Meinungsäußerung und auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit.

Doch nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO leben weltweit rund 33 Millionen Kinder auf der Straße. Andere Quellen nennen bis zu 100 Millionen Straßenkinder. Ein Grund für die stark abweichenden Angaben ist die unklare Abgrenzung zwischen "arbeitenden Kindern", die sich auf der Straße Geld verdienen, und "Straßenkindern", die tatsächlich auf der Straße leben.

Angesichts der nach Auskunft von Unicef 190 Millionen Kinderarbeiter, die in der Landwirtschaft, in Fabriken und in Steinbrüchen eingesetzt werden; angesichts der vielen als Kindermädchen und als billige Arbeitskraft missbrauchten Kinder, angesichts derjenigen Kinder, die von ihren Eltern als Sklaven verkauft werden, um Kredite zurückzahlen zu können, scheinen Unterschriften unter Konventionen nicht viel bewirken zu können. In der Tat: Kinderrechte müssen eingefordert und durchgesetzt werden. Aktiv, wie es uns die Lebenskundeschüler an diesem Tag vormachen.


Die zwei Seiten der Kinderarmut

Kinderarbeit und Straßenkinder sind zwei Seiten ein und derselben Medaille: der Kinderarmut. Die Kinder der Lebenskundegruppe haben diesen Zusammenhang längst begriffen: Sie möchte "den Kindern eine Freude machen, damit die was zu essen haben", antwortet die 10-jährige Angelina auf die Frage, warum sie an diesem Tag mitmache. Sie sei Journalistin und ihr persönlich sei das Recht auf Bildung am wichtigsten. Ohne Bildung gebe es keinen Job und kein Geld, setzt sie selbstbewusst hinzu. Zusammen mit Sanja (11 Jahre) hatte sie ein Team gebildet. Sie sammelten Spenden und verkauften Sachen aus ihrem Bauchladen, wie viele aus ihrer Klasse. "Ja, es ist schon komisch Leute anzusprechen", doch es mache Spaß, anderen Leuten zu helfen, meinte Sanja. Viele Kinder seien krank. Deswegen ist ihr Lieblingsrecht das Recht auf Gesundheit.

Viele Klassen der Richardgrundschule kamen zu Besuch und unterstützen die Aktion. Sie bekamen einiges geboten: Die B-Boys zeigten ihre waghalsigen Break-Dance-Figuren, ein Kinderrechte-Theaterstück wurde aufgeführt und ein Gedicht szenisch vorgetragen.

Das eingenommene Geld wird der Organisation terre des hommes gespendet. Im Mittelpunkt steht dieses Jahr das Projekt Creciendo Unidos, ein kolumbianischer Projektpartner von terre des hommes. Übersetzt bedeutet das: "Wir werden gemeinsam groß". "Wir", das sind etwa 650 arbeitende Kinder und Jugendliche, sowie Erzieher, Psychologen und Handwerker. In Bogota ist unter dem Dach der Stiftung eine Selbstorganisation arbeitender Kinder entstanden, mit dem Ziel, denjenigen, die sich ihnen anschließen, durch Schutz und Ausbildung ein besseres Leben zu ermöglichen.

Er schäme sich ein wenig, andere Leute anzusprechen, berichtete mir Enis (10 Jahre). "Gut ist, Kindern zu helfen, die in Not sind." Alle bräuchten Liebe und Unterstützung, fügte er hinzu. So liegt ihm das Recht auf Liebe und Zuneigung besonders am Herzen. Ein bisschen habe er heute mitbekommen, wie es ist, ein Straßenkind zu sein, meinte er nachdenklich.


Stolz auf den Erfolg

Erschöpft zurück in der Klasse werden die gesammelten und verdienten Spenden gezählt - der Lohn für eine harte Arbeit, die sie bis an ihre Belastungsgrenzen geführt hatte. Doch als all die Spenden-Boxen ausgezählt sind, jubeln die Kinder über 232 Euro. 232 Euro, die den Kindern in Kolumbien zu einem menschenwürdigeren Leben verhelfen sollen. Sie sind stolz auf ihre Aktion, darauf dass sie sich auch von unfreundlichen Passanten nicht hatten abschrecken lassen. Sie haben gelernt, dass es sich lohnt, sich für andere Menschen einzusetzen. "Ich wünsche mir, dass es den Kindern auf dieser Welt gut geht", diktiert mir Enis in mein Notizbuch. Ein einfacher und klarer Wunsch. Heute hat er daran mitgearbeitet, dass der Wunsch in Erfüllung geht.


Töns Wiethüchter ist Lebenskundelehrer in Berlin.


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Quelle:
diesseits 1. Quartal, Nr. 90 1/2010, S. 12-13
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
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Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2010