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BERICHT/219: Gustav Radbruchs Plädoyer für eine "Weltliche Schule" (diesseits)


diesseits 1. Quartal, Nr. 90/2010 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Gustav Radbruchs Plädoyer für eine "Weltliche Schule"

Von Arnold Köpcke-Duttler


Gustav Radbruch, der von 1878 bis 1949 lebte, war Reichsjustizminister in der Weimarer Republik und gilt als einer der einflussreichsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Daneben genoss er auch als Strafrechtler, Kriminalpolitiker, Strafrechtshistoriker, Biograph und Essayist international großes Ansehen. Auch über die Weltliche Schule machte er sich Gedanken, für die er in seiner Zeit allerdings wenig Anerkennung fand.


Gustav Radbruch, Professor für Strafrecht und zeitweiliger Justizminister in der Weimarer Republik, trat nach dem Ersten Weltkrieg - was für einen rechtsphilosophischen Denker der damaligen Zeit überhaupt nicht selbstverständlich war, in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein, die sich damals noch als "Arbeiterpartei" verstanden hat. Radbruch wurde Sozialdemokrat, weil seiner Auffassung nach diese Partei eine vernünftige, vorsichtige, verantwortungsvolle, nicht zur Unzeit revolutionäre und nicht zur Unzeit nationalistische Politik betrieb. Seine politische Arbeit sah er, angeregt von Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, als Hingabe an eine "nicht metaphysische Ethik der Welt", die Totalitätsansprüche einschränken sollte, um konkrete Lebensmöglichkeiten für die Menschen zu ermöglichen und zu steigern. Anders als viele Juristen und Hochschullehrer insgesamt setzte sich Radbruch für die demokratische Republik ein, wobei er von der Mehrheit der deutschen Juristen als "Nestbeschmutzer" diskriminiert wurde. Dem im Januar 1922 gegründeten "Republikanischen Richterbund" sah er sich verbunden, jenen Juristen, die - wie er - sofort nach der Machtergreifung der nationalsozialistischen Herren von ihren Lehrstühlen verjagt, jenen, die in Konzentrationslagern ermordet wurden. Radbruch setzte sich ein für eine umfassende "Republikanisierung und Demokratisierung" und schuf in seiner Amtszeit die Grundlagen für ein "soziales Recht" als deutlicher Gegner der Todesstrafe. Mit diesem Recht wandte er sich der Arbeitswelt zu, betonte er die Notwendigkeit des Schutzes der Mieter und das Recht junger Menschen, nicht nach den Maßstäben des Erwachsenenstrafrechts verurteilt zu werden. Sehr interessiert war Radbruch an dem Bereich der Bildungs-, Schul- und Hochschulpolitik, für eine "weltliche Gemeinschaftsschule" selber einstehend. Sein Denken war bestimmt von einem anregenden und weitblickenden "philosophischen Werterelativismus". Als Kultur-Sozialist sah er sehr klar, dass die politische Demokratie unvollkommen bliebe, folgte ihr nicht die soziale Demokratie, würde nicht die ökonomische Ungleichheit überwunden. In einer Abhandlung in den "Jungsozialistischen Blättern" des Jahres 1923 heißt es, die Demokratie sei nicht nur eine Übergangsform zum Sozialismus, sondern die wahrscheinliche politische Endform auch des "Sozialistischen Gemeinwesens". Wie viel zu wenige Professoren bestand Gustav Radbruch darauf, dass die Freiheit des Geistes nicht antiquiert, sondern die unentbehrliche Grundlage jeder kulturellen Existenz sei.

Bis heute wirken nach seine Einsicht darin, dass es auch gesetzliches Unrecht geben kann und dass Jurist nur zu sein vermag, wer es mit schlechtem Gewissen ist. Die Einsicht in die Fragwürdigkeit jedes Rechts hat sein Leben begleitet.


Soziale Einheitsschule

Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hat, bei eigener Vorliebe für eine weltliche Schule, die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung zusammengefasst. Die Reichsverfassung führe die Einheitsschule ein; Kinder aller Bevölkerungsklassen und Religionsbekenntnisse sollten dieselbe Grundschule besuchen. Der Aufstieg aus dieser Grundschule in die mittleren und höheren Schulen sollte ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der Eltern ausschließlich aufgrund der besonderen Anlagen und Neigungen der Schüler erfolgen. Die gemeinsame Grundschule für alle Bevölkerungsklassen (Radbruch nannte sie die soziale Einheitsschule, womit die Gegenwendung zu einer erzwungenen Vereinheitlichung gemeint ist) sei in der Verfassung ohne Ausnahme durchgeführt, unterschieden von der gemeinsamen Schule für alle Religionsbekenntnisse (Radbruch nannte sie die konfessionelle Einheitsschule), die Ausnahmen zuließ. Das Ergebnis gegenseitigen Nachgebens der drei Mehrheitsparteien, den sogenannten Weimarer Schulkompromiss, umriss Radbruch so: für die Simultanschule, die gemeinsame Schule mit getrenntem Religionsunterricht für alle Bekenntnisse, habe sich die Reichsverfassung grundsätzlich entschieden. Auf Antrag von Erziehungsberechtigten hin konnten nebeneinander errichtet werden Simultanschulen, evangelische, katholische, jüdische Bekenntnisschulen als besondere Schulen für die Kinder desselben Bekenntnisses mit Religionsunterricht nach Maßgabe des jeweiligen Bekenntnisses und weltliche Schulen als Schulen ohne Religionsunterricht, die offen seien für alle Kinder. Radbruch verstand mit der Reichsverfassung die weltliche Schule nicht als eine religionslose, sondern als eine bekenntnisfreie Schule.


Diesseitsfrohe Religiosität

Gegen den Zwang eines kirchlichen Bekenntnisses gerichtet, sollte in der weltlichen Schule auch für die Behandlung der Religion volle Lehrfreiheit bestehen. An die Stelle der Auferlegung einer Verpflichtung zum Glauben sollte die Religionskunde treten. Die "diesseitsfrohe Religiosität", für die Radbruch Sympathien hegte, betrachtete sie Religion in der Religionskunde als "gewaltig Geistesmacht". Unsere Kultur sei ohne das Christentum überhaupt nicht verständlich. Den "christlichen Nährboden" achtete Radbruch gerade mit der Begründung, dass er in der weltlichen Schule nicht die religiöse, wohl die soziale Erziehung als Mittelpunkt sah. Die weltliche Schule sollte im Gegenstand zu der Bekenntnisschule nicht zu Christen, sondern zu Staats-Bürgern, nicht für das Jenseits, sondern auf das Diesseits hin erziehen.


Staatsbürgerlicher Unterricht

Der staatsbürgerliche Unterricht sollte als beherrschendes "Erziehungsfach" an die Stelle des Religionsunterrichts rücken. Die weltliche Schule sollte nicht mehr in erster Linie religiöse Erziehungszwecke verfolgen; vielmehr benannte die Weimarer Reichsverfassung als Ziele der schulischen Erziehung die sittliche Bildung, die Weckung der staatsbürgerlichen Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geist des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung. Radbruch selbst erlegte der Grundschule die Weltfrömmigkeit (Goethe), eine "Religion der Diesseitsfreudigkeit" auf. In ihr geht es darum, als Teil des Ganzen in diesem Ganzen mit anderen Menschen brüderlich verbunden zu sein. Solidarität, Kameradschaft, Verbundensein in einer gemeinsamen Arbeit, Fernstenliebe zeichnen die von Radbruch erhoffte Schule des Gemeinsinns aus. Zu den Zielen der schulischen Erziehung gehörten für ihn die "staatsbürgerliche Gesinnung", die Durchdringung des Unterrichts mit staatsbürgerlichem Geist. Kameradschaftlichkeit, Gemeinsinn, Weltoffenheit, Diesseitsfreudigkeit durchdringen die weltliche Gemeinschaftsschule bis hin zur Völkerversöhnung zu einer von Radbruch betonten "Internationale des Geistes".

In einem Gesetzentwurf über die weltliche Schule wurde diese als Gemeinschaftsschule umrissen, nicht als eine dogmatisch gebundene Schule, sondern als die vom Geist der "Gemeinschaftsethik und Gemeinschaftskultur beseelte weltliche Schule".


Internationales Menschentum

Gustav Radbruch hat die Kultur verstanden als übernationalen Menschheitswert. In einem Vorlesungsmanuskript aus dem Sommersemester 1919 stellte er den Völkerbund als Arbeitsgemeinschaft im Dienste der Kultur dar; damals noch an der Universität Kiel, gab er seine Hoffnung auf ein "internationales Menschentum" Ausdruck, der Forderung nach einem übernationalen Gemeinsinn, der sich in einer internationalen Universität zeigen könne. Nach dem Sturz der nationalsozialistischen Herrschaft und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erneuerte Radbruch seinen Ruf nach einer übernationalen Gemeinschaftsgesinnung, die die Voraussetzung jeder wirksamen völkerrechtlichen Friedensarbeit sei. Sinn der übernationalen Kulturorganisationen sei es, die von Natur "totalitätsstrebigen Staaten" an die Grenzen zu mahnen, die ihnen durch die Autonomie der Kultur gesetzt seien. Das grauenvolle Erlebnis dieses Krieges in seiner Aufgipfelung bis zur Atombombe stelle die Menschheit vor die Alternative: Weltfrieden oder Weltuntergang.


Kultur der Menschheit

In seinen letzten Lebensjahren noch hat Radbruch über eine humane Bildung nachgedacht, die den Menschen die Nährboden von Herzensfreundlichkeit und Menschenliebe werden sollte. Es sei die Idee der "Kultur der Menschheit", die alle Menschen verbinde - ohne Rücksicht auf den Stand oder die Nation. Radbruchs Begriff der Humanität kreiste um Bildung, Menschenfreundlichkeit und Menschenwürde. Angeregt von Lessings Schriften, Herders Briefen zur Beförderung der Humanität, angesprochen von Kants Philosophie verlangte Radbruch die Achtung der Menschenwürde, die es gebiete, den Menschen als Selbstzweck zu behandeln, und verbiete, ihn zu einem bloßen Mittel für fremde Zwecke herabzuwürdigen. Der Nationalsozialismus habe ein fortgesetztes Verbrechen gegen die Menschlichkeit in allen ihren drei Bedeutungen verübt: Er habe nicht nur tausendfältige Unmenschlichkeit im Sinne von Grausamkeiten und Entwürdigungen begangen, sondern z. B. mit dem Versuch der Ausrottung der polnischen Bildungsschicht, auch Humanitas im Sinn von Bildung bewusst zerstört. In seinem Aufsatz "Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit" deutete Radbruch diese Verbrechen in einem dreifachen Sinn der Grausamkeit gegen menschliches Dasein, der Entehrung der Menschenwürde und der Zerstörung menschlicher Bildung. Das so zu verstehende Verbrechen gegen die Menschlichkeit fasste er als ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit auf. Von da aus dachte Radbruch erneut über den Gedanken eines gesetzlichen Unrechts und eines übergesetzlichen Rechts nach, das sich für ihn in den Menschenrechten ausdrückte.

Als Ziel öffentlicher Bildung, die Radbruch in seinen universitären Veranstaltungen zu verbreiten wusste, umriss er, es komme für jeden Professor darauf an, in den Studierenden die Liebe zu den Ärmsten und Elendsten zu erwecken, das Gute in den Menschen zu mehren.


Prof. Dr. Köpcke-Duttler ist Rechtsanwalt und Diplom-Pädagoge


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Quelle:
diesseits 1. Quartal, Nr. 90 1/2010, S. 28-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2010