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ETHIK/027: Schöne neue Neurowelt (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 83/2008
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Schöne neue Neurowelt

Von Claudia Gorr


Die Suche nach Wachheit, Wohlbefinden und Rausch ist eine alte und stellt laut Philosoph Thomas Metzinger eine "echte Menschheitstradition" dar. Das "Jahrhundert der Hirnforschung" wird diese Suche möglicherweise bald stark vereinfachen können und dem Traum vom permanenten Leistungshoch, stets guten Gefühlen und genialer Merkfähigkeit für alle ein beträchtliches Stück näher rücken.

Bahnbrechende Fortschritte in den Bereichen Neurowissenschaft, Neuroregeneration und -technologie zeichnen sich bereits heute ab. Schon bald könnte beispielsweise künstliche Intelligenz- und Gedächtnisverstärkung oder Gedankenlesen möglich sein, doch auch Gefühle könnten per Pille oder Mikrochip gesteuert werden.

Der turmdersinne greift das umstrittene Thema Neuroenhancement auf seinem diesjährigen Symposium auf. Vom 10. bis 12. Oktober 2008 diskutieren Wissenschaftler dann mit der Öffentlichkeit über "künstliche Sinne" und "gedoptes Gehirn". Den Eröffnungsvortrag gestaltet Thomas Metzinger; Bild-der Wissenschaft-Redakteur Rüdiger Vaas wird die große Podiumsdiskussion leiten. In seinem Buch "Schöne neue Neurowelt" rückt Vaas Science Fiction bereits jetzt in greifbare Nähe.

Vaas ist Biologe und - das verleiht seinem Buch erst das rechte Gewicht - auch Philosoph. Auch wenn einige der in seinem Buch aufgeführten Manipulationsmöglichkeiten spekulativ bleiben, lotet Vaas schon jetzt mögliche ethische Konsequenzen für eine zukünftige Gesellschaft aus, in der der Einzelne vielleicht schon bald zur körperlichen, geistigen und emotionalen Optimierung seiner selbst gezwungen sein wird. Was für Wissenschaft und Medizin einen riesigen Fortschritt bedeutet, stellt Anthropologie und Ethik vor grundlegend neue Fragen. Diesseits befragte den Autor zu den zentralen Themen seines Buches.


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DIESSEITS: Herr Vaas, was sind Ihrer Meinung nach die wirklich bahnbrechenden Neuerungen in der Neuroregeneration und -technologie des 21. Jahrhunderts?

RÜDIGER VAAS: Das 21. Jahrhundert hat ja erst angefangen und daher halte ich es mit Niels Bohr: "Voraussagen sind schwierig, insbesondere wenn sie sich auf die Zukunft beziehen." Doch vermutlich eröffnen die kommenden Dekaden tiefgreifende neurotechnische Anwendungen: Intelligenzverstärker, Neurokosmetika, Gefühlsdesign, Gedächtnisverbesserung und -löschung halten Einzug. Eingriffe ins Gehirn sowie Geräte fürs Gedankenlesen werden vielleicht bald alltäglich sein. Neuroprothesen oder Gehirn-Chips erlauben Handlungen mit Gedankenkraft - im Ansatz schon heute. Biblische Verheißungen können ohne himmlischen Einfluss wahr werden: Blinde sehen, Taube hören, Lahme gehen. Gewebe- und Zelltransplantationen, gezielte genetische Veränderungen und ungeahnte Therapie-, aber auch Manipulationsmöglichkeiten lassen sich erhoffen und befürchten. Gehirn-Computer-Schnittstellen und Cyborgs verwischen die Grenze zwischen Natur und Technik. Kopftransplantationen, Gehirne im Tank und Cyberrealitäten locken sogar mit fragwürdigen Versprechen von Unsterblichkeit.

DIESSEITS: So genannte Neuro-Enhancer sind ja schon jetzt in aller Munde. Könnten kognitive Leistungshelfer tatsächlich herkömmliche Formen des Lernens ersetzen?

RÜDIGER VAAS: Das ist im Augenblick Wunschdenken oder Propaganda. Wer Pillen schluckt, nimmt damit noch kein Wissen zu sich. Allenfalls können die Enhancer die Ausdauer, Konzentration oder Merkfähigkeit verbessern. Lernen muss man trotzdem noch, so schön ein Nürnberger Trichter auch wäre. Und Vorsicht: Keine Wirkung ohne Nebenwirkung! Eingriffe ins gesunde Gehirn sind äußerst riskant! Langfristig könnte man sich sein Gedächtnis sogar damit ruinieren. Schon jetzt gibt es beispielsweise Indizien dafür, dass Substanzen, die die Lernfähigkeit erhöhen, auch die Schmerzempfindlichkeit vergrößern. Selbst beim klinisch gut untersuchten aufmerksamkeitssteigernden Ritalin sind die Gefahren langjährigen Konsums unklar. Studien mit Ratten zeigten, dass es die Zellfortsätze verändert, die Dendriten, mit denen Nervenzellen die Informationen von anderen Nervenzellen aufnehmen - womöglich irreversibel. Über die Langzeitfolgen weiß man noch nichts. Generell sind Manipulationen der Nervenaktivitäten immer problematisch, weil das Gehirn ein hochkomplexes System ist und Veränderungen lawinenartige, nicht vorhersehbare Auswirkungen haben können.

DIESSEITS: In ihrem Buch sprechen Sie von einer Kränkung des Menschenbildes. Was bedeutet das?

RÜDIGER VAAS: Sigmund Freud nannte drei große Kränkungen, die er Nikolaus Kopernikus, Charles Darwin und sich selbst zuschrieb: Die Erkenntnisse, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist, dass wir ein Evolutionsprodukt sind und dass wir von unbewussten Trieben gesteuert werden. Der Wissenschaftstheoretiker Gerhard Vollmer hat sogar zehn Kränkungen diagnostiziert, von denen vor allem die neurobiologische erst noch bevorsteht, wenn die Hirnforschung die materiellen Grundlagen unseres Geistes weiter enträtselt. Althergebrachte Vorstellungen von Willensfreiheit im starken Sinn und einer unsterblichen Seele werden immer unglaubwürdiger. Diese Veränderung des Menschenbilds, die allerdings noch keineswegs absehbar und unumstritten ist, muss man freilich nicht notwendig als Beleidigung auffassen, sondern kann sie auch als Befreiung von Dogmen und Vorurteilen sehen, als Fortschritt von Erkenntnis und (humanistischer) Moral oder als notwendige Anpassung an die Herausforderungen der Zukunft. Doch wie immer man zu den Erkenntnissen, Versprechungen und Grenzen der modernen Hirnforschung stehen mag - dass sie in den nächsten Jahrzehnten für unser Leben und Selbstverständnis immer wichtiger werden, lässt sich kaum vernünftig bezweifeln.

DIESSEITS: Welche gesellschaftlichen Konsequenzen könnten sich aus einer solchen Kränkung ergeben und welche Folgen hätte das für die Anthropologie?

RÜDIGER VAAS: Unser Selbst- und Weltbild bestimmt unser Handeln mit. Und mutmaßliche "Kränkungen" des Menschenbilds oder Erklärungen von Bewusstsein, Willensentscheidungen, Moral und Religiosität können einige labile Menschen in die Irre führen oder ideologische Fundamentalismen und Wissenschaftsfeindlichkeit begünstigen. So werden bereits Forderungen nach einer "Anthropologie-Folgenabschätzung" laut, nach einer "neuen Bewusstseinskultur" oder "normativen Psychologie". Doch auch die philosophische Grundfrage wird neu gestellt: Was ist - oder wird - der Mensch? Die neurowissenschaftlichen Entwicklungen bergen also Risiken, aber auch Chancen. Und die gesellschaftlichen Konsequenzen bestehen vor allem in einem menschenwürdigen, freiheitlichen und friedlichen Umgang damit - ethisch reflektiert und, wo nötig, gesetzlich eingeschränkt.

DIESSEITS: An welche Bereiche denken Sie da besonders?

RÜDIGER VAAS: Die ethischen Aspekte der Neurowissenschaft betreffen sowohl die menschlichen Individuen als auch die Gesellschaft insgesamt und, nicht zu vergessen, die Tiere - Stichwort: Tierversuche. Hirn-Doping und die schon erwähnten Gedächtnis-Manipulatoren werfen viele Fragen auf. Etwa zur Fairness: Chancengleichheit, Zugangsmöglichkeiten, Kosten der Nebenwirkungen. Und zur Selbstbestimmung: äußerer Druck, kognitives Wettrüsten. Und zur persönlichen Identität, auch zu Gewissen und Verantwortung. Hirnscans stellen das Recht auf (Nicht)Wissen und die Privatheit der Gedanken in Frage, etwa bei Lügendetektoren oder Einstellungstests. Und sie erschaffen neue Möglichkeiten der Überwachung, bis hin zu präventiven Verhaftungen und Kriminalchirurgie. Elektroden und Gehirn-Computer-Schnittstellen eröffnen neue Wege des Manipuliertwerdens und des "freiwilligen" Freiheitsverlusts. Nervenzell-Transplantationen rütteln am Gehirntodeskriterium, der persönlichen Identität und könnten Embryonen zu Ersatzteillagern degradieren. Die vielfältigen Einflüsse der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und deren philosophische Bedeutung haben ebenfalls eine ethische Dimension. Das alles habe ich in meinem Buch ausführlich beschrieben und diskutiert, aber Patentrezepte kann ich nicht bieten - niemand kann das.

DIESSEITS: Wissenschaftliche Entwicklungen sind für die Wissenschaft selbst interessant, gehen bei ihrer Umsetzung aber die gesamte Gesellschaft an. Brauchen wir eine Neuroethik?

RÜDIGER VAAS: Was Friedrich Dürrenmatt über die Physik sagte - ihr Inhalt gehe die Wissenschaftler an, ihre Auswirkung aber alle Menschen - gilt erst recht für die moderne Hirnforschung. Ob eine spezielle Neuroethik notwendig ist, mag zunächst eine Definitionsfrage sein. Doch unabhängig davon müssen die Methoden, Ergebnisse, Schlussfolgerungen und vor allem Anwendungen der Hirnforschung und ihrer angrenzenden Gebiete ethisch reflektiert werden. Viele Probleme sind zu heikel, um ausschließlich einer Selbstkontrolle der Wissenschaft unterstellt oder der Profitgier zur gnadenlosen Verfügung gestellt zu werden. Es müssen wohl Normen, Regeln und Gesetze entwickelt und kontrolliert werden, möglichst international. Und selbstverständlich unter Einbeziehung der Wissenschaftler. Aber es genügt nicht, wenn allein Experten sich mit Expertisen befassen, sondern Laien sollten ebenfalls mitreden - getreu Dürrenmatts Motto "Was alle angeht, können nur alle lösen."


Das Gespräch führte turmdersinne-Mitarbeiterin Claudia Gorr.

"Künstliche Sinne, gedoptes Gehirn. Neurotechnik und Neuroethik" - turmdersinne-Symposium vom 10. bis 12. Oktober 2008

(Mehr Informationen zu Programm, Referenten und Anmeldung online unter www.turmdersinne.de oder per Telefon: 0911 9443281.)


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 83/Juni/08, S. 28-29
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2008