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GESELLSCHAFT/023: Verfassungsrecht und Humanismus (ha)


humanismus aktuell Heft 22 - Sommer 2008
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Verfassungsrecht und Humanismus
Humanistische Positionen zur "Staatsfrage"

Von Frieder Otto Wolf


Demokratie und Gesellschaft

Die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft ist keine bloß juristische Frage. Das macht bereits die im Verfassungsrecht - zumeist in konservativer Absicht - etablierte Unterscheidung von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit deutlich: Ohne gesellschaftliche Realität wird selbst das vom historischen Gesetzgeber im Wortlaut der Verfassung deutlich intendierte Recht einfach obsolet. Aber auch für alle diejenigen, für die das Postulat der "gleichen Freiheit" der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ein zentraler Bezugspunkt ist, sind nicht bloß Rechtsfragen von Belang. Um gleich zum zentralen Punkt zu kommen: die Frage einer "wirklichen Demokratie" für alle geht als solche selbst dann schon weit über die Fragen von Staats- und Rechtsordnung hinaus, wenn sie nicht programmatisch explizit zu einer Forderung nach "Demokratisierung der Gesellschaft" zugespitzt wird. Denn sie betrifft, ohne jedes Vertun, die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse, unter bzw. in denen Menschen leben - und nicht bloß die Begriffe, die sich ihre Jurisprudenz davon macht. Sie verweist uns also auf kritische Wissenschaften von der Geschichte und der Gesellschaft, mit deren Stand es gegenwärtig bekanntlich nicht gut bestellt ist.

Für eine humanistische Haltung, die sich darauf begründet, das für alle und von allen Menschen, wie sie sind und nicht bloß wie sie sein sollen, die gleiche Freiheit aller in Anspruch zu nehmen ist, ergibt sich daraus vorrangig die sorgfältige Kritik der herrschaftlichen Momente. [1]

Diese sind auch dem modernen Staat [2] als solchem eigen. Er hilft, sie als eine derartige Struktur "politischer Herrschaft" gesellschaftlich aufrecht zu erhalten. Zugleich unterzieht er sie einer immer wieder neu zu eröffnenden Prüfung, ob derartige Momente konkret - etwa als unverzichtbare Voraussetzungen für eine verlässliche Verwirklichung der gleichen Freiheit aller unter den heute gegebenen Bedingungen - gerechtfertigt werden können, oder ob sie eben endlich abzubauen sind (wie etwa die in den staatlichen "Zuchtanstalten" des frühen 20. Jahrhunderts oder in vielen Familien bis heute übliche Prügelstrafe).

Damit verbunden ist die immer wieder neu anzusetzende Kritik an einer Verselbständigung des Staates gegenüber den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, welche ihn bilden und ihn letztlich auch "ausmachen" sollen.

Um diese Aufgabe wirklich radikal in Angriff zu nehmen, müssten wir heute im Rückblick auf die ursprünglich marxistisch-anarchistische Debatte über den "Abbau" bzw. das "Absterben" des Staates zurückgreifen, die innerhalb der marxistischen Debattentradition verdrängt, bestenfalls marginalisiert worden ist und die innerhalb der anarchistischen Tradition als selbstverständliches Resultat eines revolutionären Willensaktes betrachtet wurde, über das es sich nicht weiter zu diskutieren lohnte.

Da dies aber nicht gleich nachvollziehbar sein kann, weil damit noch ein hohes Maß an "archäologischer" Rekonstruktion zu verbinden wäre, greife ich stattdessen auf das "Böckenförde-Diktum" zurück, um durch dessen subversive Interpretation die Ausgangsproblematik einer Hinterfragung der Staats-Politik zu gewinnen.


"Absterben" des Staates

Wenn es denn zutrifft, dass eine humanistische Position in der Politik immer darauf beruht, eine tragfähige Gemeinsamkeit zu finden zwischen in der angenommenen "Reichweite" [3] sehr unterschiedlichen, aber in der Frage der grundsätzlichen Zurückweisung von Herrschaftsaffirmation [4] übereinstimmenden Positionen, dann bedarf eine humanistische Haltung zur Frage des Staates eines hohen Abstraktionsgrades. Sie muss ein breites Spektrum politischer Optionen als grundsätzlich legitim anerkennen, die sich positiv auf das Prinzip der gleichen Freiheit aller beziehen.

Sie bedarf einer starken Begründung, denn schon der Gedanke, dass die hier als solche benannte Frage der Staats-Politik überhaupt eine ernsthafte Frage sei, liegt weit außerhalb des Horizontes des gesellschaftlichen Mainstreams. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts erscheinen heute die anarchistischen Erwartungen eines Zusammenbruchs des Staates oder auch die marxistischen Überlegungen über ein "Absterben des Staates", wie sie Ende des 19. Jahrhunderts ernsthaft diskutiert worden sind, als geradezu leichtfertige Phantastereien ohne Realitätsgehalt.

Aber die Frage nach der Staats-Politik setzt voraus, dass Staatenbildung und politische Herrschaft keine "anthropologische Konstante" sind, sondern historische Erscheinungen, die es nicht immer gegeben hat und die es - in einer offenen Zukunft - auch nicht immer geben wird. Damit sind schwierige Fragen der Geschichts- und der Gesellschaftstheorie angesprochen - von denen ich hier allerdings nicht einmal erörtern kann, ob sie wissenschaftlich zu lösen sein werden oder ob sie in einem unlösbaren philosophischen Streit offen bleiben müssen.

Statt dessen möchte ich eine subversive Interpretation des Böckenförde-Diktums, wie es uns heute beschäftigt, vorschlagen, die immerhin eines leistet: eine Begründung dafür zu liefern, warum für ernsthafte und konsequente Humanistinnen und Humanisten die Frage der Staats-Politik eine wirkliche Frage sein muss, deren Untersuchung zwar schwierig, aber keineswegs aussichtslos ist.


Einsichten im Böckenförde-Diktum

Meine zentrale These ist es, dass im Böckenförde-Diktum - wie in einem Vexierbild - zwei wichtige Einsichten versteckt sind. Dem ungeschulten und unbefangenen Blick bleiben sie zunächst unsichtbar. Haben wir sie aber erst einmal ausgemacht, lassen sie sich nicht wieder verdrängen. Diese möchte ich im Folgenden frei legen.

Erstens: Ein zeitgenössischer französischer Religionskritiker, Eli Barnavi, hat eine durchaus instruktive Analogie zur Böckenförde-These formuliert - indem er Francois Furets Aussage zitiert, "dass die Männer des Jahres 1789 just deshalb solche Probleme hatten, stabile Institutionen auf Ruinen zu errichten, weil sie sich keinen überzeugenden Ersatz für das Ancien Régime vorstellen konnten". [5] Es geht also um etwas, was das Ancien Régime, das doch gerade bankrott zusammengebrochen war und das eigentlich niemanden mehr überzeugen konnte, noch hatte und was das neue Regime dann nicht mehr hatte.

Barnavi denkt hier nur an das alte Bündnis von Thron und Altar, wie es dann wieder die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa beherrschen sollte: Was fehlte, war "die Religion". Genau dies war auch dem zeitgenössischen revolutionären Politiker Maximilien de Robespierre eingefallen, der deswegen sogar ganz praktisch in der französischen Republik einen "Kult des höchsten Wesens" eingeführt hat. Barnavi schlussfolgert aus dieser Erinnerung etwas, das Böckenförde sicherlich nicht einmal in seinen wildesten Träumen einfallen würde: "Wir brauchen also eine Zivilreligion". [6]

An genau dieser Stelle liegt aber eine andere Interpretation fast auf der Hand: Auch die neue Ordnung war in wichtigen Hinsichten herrschaftlich geprägt - im Massenelend der Sansculotten wurde jedenfalls deutlich, dass eine Befreiung der kapitalistischen Produktionsweise von den vielfältigen Fesseln, mit denen sie das Ancien Régime im Interesse der Aufrechterhaltung feudaler Herrschaftsstrukturen und Aneignungsprozesse immer wieder blockiert hatte, zu einer wirtschaftlichen Lage führte, in der für eine große, sogar wachsende Menge von Menschen nicht einmal mehr das Existenzrecht als das elementarste aller Menschenrechte gewährleistet war.

Auch eine "Befreiung" der Geschlechterverhältnisse und der Familienstrukturen von den regulierenden Eingriffen der Kirche und ihrer Sexualmoral führte offenbar keineswegs spontan dazu, dass eine Befreiung der Frauen aus patriarchalischen Herrschaftsverhältnissen einsetzte. Ganz noch zu schweigen von dem durch: und durch herrschaftlich geprägtem Los der Sklaven und der Kolonisierten, deren "gleiche Freiheit" von den Vertretern des neuen Regimes gar nicht mitgemeint war - wenn sie sich auch peinlicherweise unter der Führung von Toussaint L'Ouverture auf Santo Domingo selber erfolgreich zu befreien begannen.

Die neue Ordnung war also trotz alles Redens von "Freiheit und Gleichheit" auf eine Weise herrschaftlich strukturiert, die unter dem Gesichtspunkt der gleichen Freiheit aller schlicht unerträglich war. Und genau deswegen brauchte auch sie eine "höhere" Legitimation, als sie sich aus dem Willen, den Bedürfnissen und den Interessen der beteiligten Menschen gewinnen ließ.

Dabei stellte sich heraus, dass dies von einem republikanischen, politisch beschlossenen Kult des höchsten Wesens nicht zu leisten war - ich denke nicht, weil die Menschen angesichts von ihnen selbst geschaffener Riten und Feste nicht genügend beeindruckt gewesen wären, sondern weil diesem Kult ein spezifisches Strukturelement fehlte, wie es die Offenbarungsreligionen allesamt ausgebildet hatten: das Moment der Forderung nach absoluter Unterwerfung unter den "einen Gott" als eine aus einem imaginierten Eigentums- und Schuldverhältnis erwachsende "Pflicht und Schuldigkeit".

Genau dieses Strukturelement von Anrufung einerseits jedes einzelnen Individuums und andererseits der Forderung nach einer rückhaltlosen Unterwerfung der Individuen als "kleine Subjekte" unter ein "großes Subjekt" ist aber ohne zentrale Vorstellungen der Offenbarungsreligionen offenbar nicht zu reproduzieren. [7]

Das von Staats wegen verehrte "höchste Wesen" spricht weder spontan alle einzelnen Menschen an, noch motiviert es deren rückhaltlose Unterwerfung - es sei denn, es würde selbst zum "großen Subjekt" einer Art von Offenbarungsreligion gemacht, wie es jedenfalls einen sehr viel umfassenderen Einsatz der Staatsmacht erfordern würde. [8]

Zumindest von den Herrschaftsunterworfenen der unterschiedlichen Herrschaftsverhältnisse, wie sie auch unter dem neuen Regime fortbestehen, kann jedenfalls nicht erwartet werden, dass sie sich nun aus vernünftiger Einsicht in die Anforderungen einer freien menschlichen Gesellschaftlichkeit weiterhin den in diesen Verhältnissen Herrschenden unterwerfen.

Dazu bedarf es vielmehr einer Ressource der Reproduktion von bedingungslosem Gehorsam, über die das "neue Regime" offenbar als solches nicht verfügt. Insofern können wir im Hinblick auf Furets These das Böckenförde-Diktum durchaus bestätigen - allerdings nur um dann sogleich, anstatt im Ernst nach derartigen Gehorsamsressourcen zu suchen, zu der doch sehr viel näher liegenden Forderung überzugehen, derartige Herrschaftsverhältnisse müssten in einem politischen Gemeinwesen, das auf dem Prinzip der gleichen Freiheit beruht, allesamt überwunden werden.

Zweitens lässt sich Böckenfördes Denken als das eines deutschen Staatsrechtslehrers aber noch weit tiefer auffassen, als dies von einem französischen Historiker erwartet werden kann: Es könnte im Böckenförde-Diktum nicht nur um das "neue Regime" gehen, das religiöse Ressourcen braucht, weil es seine Befreiungsversprechen konkret nicht einlöst, sondern um ein Strukturproblem des souveränen Staates, dass dieser als solcher hat.

Denn der souveräne Staat ist mit einem Mangel behaftet, an dem seit Thomas Hobbes immer wieder theoretisch gearbeitet worden ist, ohne dass er dadurch hätte behoben werden können: Er verlangt von seinen Untertanen einen unbedingten Gehorsam, der jedenfalls grundsätzlich auf ihre Interessen und Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt. Sie sollen sogar dazu bereit sein, für ihn zu sterben, sich für ihn aufzuopfern, und zumindest im Notfall auch ihr Eigentum durch ihn konfiszieren lassen.

Die Souveränität des Staates bedeutet - nach ihrem klassischen Begriff - im Verhältnis zu anderen Staaten die Befugnis zur Aufkündigung aller eingegangenen Verpflichtungen - und d.h. letztlich auch immer, das Recht auf den Rückgriff auf die alle Rechtsverhältnisse durchbrechende Gewalt (als violentia, nicht als potestas), also das Recht, Krieg zu führen. Nach innen bedeutet sie, dass "der Staat" auf einen erklärten "Ausnahmezustand" zurückgreifen kann, wenn er auf andere Weise seine eigene Existenz nicht zu behaupten vermag, und dass er "als Staat" immer auf eine Regelung der Kompetenzkompetenz zurückzugreifen vermag, also niemals in eine Lage kommen kann, in der niemand eine geforderte Entscheidung zu treffen befugt ist.

Genau diese drei Züge des "souveränen Staates" in seinem inzwischen "klassisch" gewordenen neuzeitlichen Verständnis sind es aber, die jeder für sich und erst recht zusammengenommen eben das ausmachen, was als "Verselbständigung des Staates gegenüber der Gesellschaft" gekennzeichnet worden ist - oder was wir bezeichnen können, wenn wir in genau bestimmter Weise vom modernen Staat als einer Struktur politischer Herrschaft sprechen.

Daraus ergäbe sich die zweite, noch subversivere Lektüre, die wir dem Böckenförde-Diktum angedeihen lassen können: So lange der Staat als Staat eine Struktur politischer Herrschaft darstellt (und d.h. so lange er nicht radikal pazifiziert und demokratisiert worden ist), bedarf er der Gehorsamsressourcen, die aus dem rationalen Diskurs über Interessen und Bedürfnisse nicht zu reproduzieren sind, zu dem seine Bürgerinnen und Bürger als solche in der Lage sind.

Dass diese klassischen Bestimmungen des Souveränitätsbegriffs aber heute nicht mehr ohne Weiteres außer Frage stehen, haben die Debatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich gezeigt - von der Frage über die legitime Befugnis zur Auslösung eines Atomkrieges über die der "Notstandsgesetzgebung" bis hin zu der nach der Rolle von "non-decisions", Nichtentscheidungen und Nichtentscheidbarkeiten, in doch insgesamt durchaus funktionierenden "politischen Systemen".

Die Zukunft der Politik ruht also schon längst nicht mehr zweifelsfrei auf der historischen Gestalt des modernen souveränen Staates, auch wenn sich die Konturen einer neuen Art von politischen Gemeinwesen, die weder die Kompetenz haben werden, Kriege zu führen, noch innere Krisen mit der Gewalt eines "Ausnahmezustandes" bewältigen, noch auch schließlich in jeder Lage zu Entscheidungen befugt sein werden, sich bisher erst allenfalls in Umrissen abzeichnen.


Perspektive

Das Böckenförde-Diktum eröffnet eine Perspektive auf eine Staats-Politik, die in doppelter Weise ein Problem darstellt - weil sie, erstens, mit der Reproduktion von spezifischen Herrschaftsverhältnissen verknüpft bleibt, was ihre Berufung auf die gleiche Freiheit aller Staatsbürgerinnen und -bürger unmittelbar dementiert.

Sie nimmt als Staats-Politik, zweitens, eine herrschaftlichbestimmte Gestalt an, die sich nicht aus den Interessen und Bedürfnissen aller begründen lässt. Und anstatt, dass wir uns dann im nächsten Schritt mit auf die Suche danach begeben, aus welchen strukturell vormodernen Quellen und mit welchen heute noch verfügbaren Ressourcen die Art von unbedingtem Gehorsam reproduziert werden kann, derer Herrschaft als Herrschaft bedarf, bietet sich für uns als Humanistinnen und Humanisten doch die Frage an, welche Alternativen zu einer Politik der souveränen Staaten überhaupt denkbar, vielleicht auch schon im Ansatz vorhanden sind und was sich in Zukunft entwickeln lässt, um diese Formen einer herrschaftlich bestimmten Politik zu überwinden.

Für diesen Beitrag zur Radikalisierung humanistischen Denkens können wir Böckenförde wirklich dankbar sein - auch wenn er sicherlich gänzlich anderes im Sinn gehabt hat.

Unsere Gesellschaften und speziell die sie verfassenden politischen Gemeinwesen als souveräne Staaten sind aus den angesprochenen Gründen geradezu süchtig nach etwas, das sie in der Tat nicht dauerhaft selbst produzieren können. Das ist der Punkt, in dem Böckenförde Recht hat. Aber er hat weder Recht darin, diese Tatsache gleichsam anthropologisch als etwas zu interpretieren, das zu menschlicher Gesellschaftlichkeit unveränderbar dazu gehört: Sie ergibt sich vielmehr aus klar anzugebenden und durchaus zu verändernden Zügen der Gesellschaften, in denen wir gegenwärtig leben.

Schon gar nicht hat Böckenförde darin Recht, dass diese Drogenabhängigkeit einfach hingenommen oder gar noch gefördert werden müsste. Unsere Aufgabe als Humanistinnen und Humanisten ist es daher, nicht nur im gesellschaftlichen Blick zu halten, dass diese Züge unserer Gesellschaften problematisch sind und die Suche nach Möglichkeiten ihrer Überwindung auf der Tagesordnung bleibt, sondern auch schlicht vorzuleben, dass auch unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen ein drogenfreies Leben möglich ist.

Dazu gehören selbstverständlich, wie bei jeder Drogentherapie, die es ja nicht einfach mit "Freiwillensfähigen" zu tun hat, auch Fragen von Ausstiegsunterstützung und Ersatzstoff-Angeboten - also, bezogen auf die monotheistischen Religionen [9], von historisch-philosophischer Religionskritik und von mehr oder minder spekulativen "Weltanschauungen". Unseren eigenen Humanismus sollten wir deswegen aber nicht auf diese seine gleichsam therapeutischen Aspekte beschränken.

Die öffentliche Aneignung des Standes der Wissenschaften im Begreifen der ebenso natürlichen wie geschichtlichen Wirklichkeit und die nicht weniger öffentliche deliberative Verständigung über die Grundorientierungen unserer Gemeinwesen (Politik) und unserer individuellen Lebenstätigkeit (Moral) sind kein weiterer Prozess der Drogen-Substitution (wie dies von Böckenförde und seinen Nachbetern suggeriert wird), sondern ganz einfach der Beginn eines drogenfreien Lebens, wie wir es alle zusammen führen wollen und jeder für sich führen will.

In diesem Sinne können wir - durchaus gegen Böckenförde - die von uns zu betreibende Erneuerung der Aufklärung der mit großem medialen Getöse postulierten Rückkehr der Religion entgegen halten.


Anmerkungen

[1] Diese humanistische Kritik setzt voraus, dass es möglich ist, zwischen Situationen und Strukturen der Herrschaft von Menschen über Menschen, was unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung bzw. der "gleichen Freiheit" abzulehnen ist, und solchen Situationen und Strukturen, in denen Menschen Macht über Menschen ausüben, was auch in einer umfassend befreiten künftigen Gesellschaft erforderlich sein wird - etwa in einem Arzt-Patienten-, Eltern-Kind- bzw. Erzieher-Zögling-Verhältnis - sinnvoll und überprüfbar zu unterscheiden (was es dann wiederum nicht etwa ausschließt, sondern allererst möglich macht, illegitime herrschaftliche Momente in derartigen "Macht-über-Verhältnissen" triftig zu kritisieren.

[2] Ich lasse hier die schwierige Frage beiseite, ob und in welchem Sinne auch in Bezug auf vormoderne politische Gemeinwesen wirklich von einem "Staat" gesprochen werden kann. Es muss genügen, festzuhalten, dass jedenfalls "souveräne" - d.h nach außen unabhängige und nach innen schrankenlos handlungsfähige - Staaten historisch erst in der Entwicklung zur europäischen Moderne aufgetreten sind - was wiederum durchaus offen lässt, ob und inwieweit es vergleichbare Entwicklungen auch in außereuropäischen politischen Gemeinwesen gegeben hat.

[3] Manche halten die repräsentative Demokratie, die kapitalistische Produktionsweise, den "Industrialismus" oder auch die patriarchalische Familie für unüberwindbar, während andere den Gedanken daran weiter verfolgen, dass in höherem Grade die gleiche Freiheit aller gewährleistende Verhältnisse geschaffen werden können und sollten.

[4] D.h. einer Affirmation von Ansprüchen auf Herrschaft als Selbstzweck (bzw. als Gebot eines "höheren Wesens") und einer Behauptung der grundsätzlichen Unmöglichkeit von Herrschaftsüberwindung nicht aber jeglicher Rechtfertigung von Herrschaft als ein Mittel zur Befreiung, das unter bestimmten Voraussetzungen argumentativ durchaus begründet werden konnte

[5] Eli Barnavi: Mörderische Religion. Eine Streitschrift. Berlin 2008, S. 170.

[6] Barnavi: Mörderische Religion.

[7] An dieser Stelle rührt die Böckenförde-These an die Problematik der von Jacques Lacan vertretenen These, nur in einer derartigen Unterwerfung sei überhaupt eine Subjektkonstitution möglich, was im Französischen durch den Doppelsinn des Wortes "assujettissement" geradezu nahe gelegt wird, das in der Tat sowohl als Unterwerfung als auch als Subjektwerdung zu übersetzen wäre. Es ist jedoch weit plausibler anzunehmen, dass eine derartige Unterwerfung unter ein "großes Subjekt" nur eine der möglichen Entwicklungsformen von Subjektivität darstellt, so dass auch eine Entwicklung "befreiter Subjektivität", wie sie radikal demokratische Verhältnisse und "gleichberechtigte" Beziehungen ebenso voraussetzen wie letztlich auch (re-)produzieren, jedenfalls als solche denkbar ist.

[8] Die Evidenz der unterschiedlichen Totalitarismustheorien, ebenso wie der These von den "politischen Religionen" des 20. Jahrhunderts, die bei näherer Betrachtung der historischen Prozesse, die sie erklären sollen, völlig verfliegt, beruht auf diesem Erfordernis einer Totalisierung der Staatstätigkeit zur Erzielung eines offenbarungsreligionsähnlichen Unterwerfungseffekts.

[9] Ich denke, wir sollten uns auf diese konzentrieren, mit denen wir es "im Westen" vor allem zu tun haben, ohne uns in vage Spekulationen im Kielwasser eines Passe-partout-Begriffs von Religion einzulassen, der allein schon aus forschungsmethodischen Gründen eine starke Tendenz zu einem sinnlosen Ausfransen hat: "Wenn ich was nicht interpretieren kann, dann seh' ich's flugs als kultisch an!" heißt es unter Archäologen...


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 22 - Sommer 2008, Seite 34-39
Hefte für Kultur und Weltanschauung
Herausgegeben von der Humanistischen Akademie Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2008