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GESELLSCHAFT/024: Begründungen der Menschenwürde in der aktuellen Rechtsphilosophie (ha)


humanismus aktuell Heft 22 - Sommer 2008
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Begründungen der Menschenwürde in der aktuellen Rechtsphilosophie

Von Tatjana Hörnle


Einleitung

Der Begriff "Menschenwürde" ist nicht nur von zentraler Bedeutung für das deutsche Verfassungsrecht, sondern auch ein durchschlagendes Argument in rechtspolitischen Diskussionen. Wer vorbringt, dass Normen, Verhalten oder Zustände mit der Menschenwürde unvereinbar seien, will damit sagen, dass diese absolut inakzeptabel seien.

Verfassungsrechtlich ergibt sich der besondere Status der Menschenwürde aus ihrer Unabwägbarkeit (Art. 1 Abs. 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" - von einer Einschränkung der Menschenwürde ist hier nicht die Rede).

Ferner ist der Sonderstatus des Art. 1 Abs. 1 GG darauf zurückzuführen, dass Art. 79 Abs. 3 GG diese Norm zu denjenigen zählt, die jedenfalls innerhalb des Rahmens der Verfassung nicht grundlegend verändert werden können.

Was genau heißt aber Menschenwürde? Wenn man Kommentare zum Grundgesetz aufschlägt, findet man keine allgemein anerkannte Definition. Die Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG steht in frappierendem Gegensatz zu der Unklarheit seiner Bedeutung. Dieses Problem ist kein Neues. Schon bei Schopenhauer findet sich beißend formulierter Spott zum Thema Menschenwürde.

Er wettert gegen die "rath- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen, oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponirenden Ausdruck 'Würde des Menschen' verstecken, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gerne mit einer solchen Würde angethan sehn und demgemäß damit zufrieden gestellt seyn würde." [1]

Auch zeitgenössische, eher pessimistisch gestimmte Rechtsphilosophen, etwa Norbert Hoerster, kommen zu der Einschätzung, dass es sich um eine leere Formel handle. [2]

Nicht alle haben allerdings Probleme mit einem als vage eingestuften Konzept der Menschenwürde. Eine Alternative liegt darin, aus der Not eine Tugend zu machen, d.h. die Unschärfe des Begriffs aufzugreifen und sie positiv zu bewerten.

In diesem Zusammenhang wird häufig eine Bemerkung eines der Väter des Grundgesetzes, Theodor Heuss, angeführt: Es handle sich bei dem Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" um eine "uninterpretierte These". [3]

Nach dieser Vorstellung soll Art. 1 Abs. 1 GG bewusst nicht präzisiert werden, sondern als Projektionsfläche für Menschen mit unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergründen offen gehalten werden. Wer den Inhalt mit christlichen Lehren füllen wolle, solle dies ebenso tun können wie derjenige, der sich eher humanistischen Traditionen verpflichtet sehe.

Eine solche Begründung für einen offenen Begriff der Menschenwürde wird von einem pragmatischen Anliegen getragen, nämlich dem Anliegen, weite gesellschaftliche Akzeptanz zu garantieren und so Art. 1 GG jenseits religiöser und weltanschaulicher Prägungen im Bewusstsein der Bevölkerung fest zu verankern.

Ein anderer Ansatz, der in Deutschland gegenwärtig vor allem von meinem staatsrechtlichen Kollegen Ulrich Haltern vertreten wird, verbindet das Bekenntnis zu einem nicht definierten Verständnis von Menschenwürde mit dem Postulat, dass Verfassungsbegriffe auf einer Übernahme sakraler Vorstellungen beruhen. Eine solche Parallelisierung von sakralen Begriffen und Verfassungskonzepten führt dann dazu, dass Haltern zufolge Menschenwürde "der sichtbare Horizont sei, an dem sich zwar alles orientiert, den wir aber nicht erreichen können".

Man könne nur das "mysterium tremendum" "im heiligen Schauer erspüren." [4] Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG sei eine "Verankerung des Heiligen". [5] Nach einer solchen Sichtweise ist Vagheit keineswegs von Nachteil, sondern Unschärfe verleiht im Gegenteil eine Art schimmernde Aura. Menschenwürde wird zu einem prächtigen, aber nicht genau wahrnehm- und beschreibbaren Gegenstand der Verehrung.

Ganz neu sind solche Vorstellungen nicht. Der Gedanke, dass Begriffe der Verfassungslehre säkularisierte theologische Begriffe seien, wurde von dem berühmt-berüchtigten Staatsrechtslehrer Carl Schmitt in der 1922 erschienenen Schrift Politische Theologie entwickelt. [6]

Inwieweit die Vorstellung, dass Parallelen zwischen Verfassungsbegriffen und religiösen Konzepten bestehen, rechtssoziologisch fundiert sein könnte, bedürfte der Untersuchung (kritisch sieht dies Hubert Cancik in diesem Heft).

Charakteristisch für die Vertreter solcher Lehren ist, dass sie die Sakralisierungsthese schlicht postulieren. Es ist für meine Zwecke nicht notwendig, sich mit der von Schmitt behaupteten These und ihrer Übertragung auf das Konzept Menschenwürde näher zu beschäftigen.

Eines ist nämlich offensichtlich: Wenn die Menschenwürde nur ein "mysterium" ist, ist damit wenig anzufangen, wenn man die Perspektive des Teilnehmers an einer politischen Debatte einnimmt. Sobald irgendwelche praktischen Folgerungen abgeleitet werden sollen, muss man angeben können, was Menschenwürde ist. Ansätze, die den Begriffsinhalt offen lassen, schließen die Möglichkeit aus, Verhältnisse oder Verhalten als menschenwürdewidrig zu beurteilen.

Da meine Prämisse ist, dass derartige Beurteilungen Sinn und Zweck eines Diskurses über Menschenwürde sein sollten, wende ich mich der Frage zu, wie man Menschenwürde interpretieren kann.


Menschenwürde als Eigenschaft

In der heutigen Diskussion über die Menschenwürde herrscht die Auffassung vor, dass es sich um eine Eigenschaft aller Menschen handele. "Menschenwürde als Eigenschaft" nimmt auf naturrechtliche Vorstellungen Bezug, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, blühten.

Gut zum Ausdruck kommt dieser naturrechtliche Hintergrund in einem bekannten Aufsatz, den der in der Nachkriegszeit einflussreiche Verfassungsrechtslehrer Günter Dürig 1956 veröffentlicht hat. [7] Menschenwürde ist nach diesem Konzept kein vom Verfassungsgeber neu geschaffenes Grundrecht, sondern ein sittlicher Wert. Als Eigenwert des Menschen sei er "etwas immer Seiendes", "etwas unverlierbar und unverzichtbar immer Vorhandenes". [8]

Menschenwürde ist also etwas, das der Mensch hat. Nach diesem ontologischen Verständnis muss Menschenwürde nicht etwa versprochen oder wechselseitig anerkannt werden, sondern es handelt sich um einen Wert, auf den sich jeder Mensch nur kraft seines Menschseins berufen kann. Liest man heute, gut fünfzig Jahre später, solche naturrechtlich geprägten Ausführungen, sind die emphatischen Bekenntnisse zur Menschenwürde als Reaktion auf das nationalsozialistische Unrecht erkennbar und nachvollziehbar. Heute ist jedoch wahrscheinlich das Bewusstsein dafür größer, dass das Bekenntnis zu einem ontologischen Verständnis von Menschenwürde nicht nur als Abgrenzung zu menschenverachtenden Praktiken der Nationalsozialisten aufgefasst werden kann. Es wirft vielmehr auch Fragen auf, nämlich die Frage, mit welchem Recht wir uns Menschen im Verhältnis zu anderen Lebewesen einen Sonderstatus zumessen. Es bedarf der Begründung, warum die Würde des Menschen unantastbar ist, die nach wie vor große Mehrheit in unserer Gesellschaft aber keine Bedenken hat, Tiere zu töten und zu essen.

Diesen Vergleich stelle ich nicht an, um an dieser Stelle zum Thema Tierschutz abzubiegen. Mein Anliegen ist vielmehr, zu betonen, dass ein ontologisches Verständnis der Menschenwürde begründet werden müsste.

Mit welchen Gründen könnte man das Postulat untermauern, dass jeder Mensch Menschenwürde habe?

Es gilt, Konditionen zu kennzeichnen, die das Besondere gerade des Mensch-Seins ausmachen. Das deutsche verfassungsrechtliche und rechtsphilosophische Schrifttum bezieht sich zu diesem Zweck häufig auf Immanuel Kant [9], etwa auf eine (als "besonders aussagekräftig" angesehene) Passage in der Tugendlehre [10], dem Zweiten Buch in der Metaphysik der Sitten: "Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann." [11]

Mit dieser Passage will Kant begründen, dass moralische Selbstschätzung ein Gebot der Tugendlehre und Kriecherei mit den Pflichten gegen sich selbst unvereinbar sei. Die Zielsetzung ist also, Tugendpflichten des Menschen gegen sich selbst zu begründen. In der Tugendlehre finden sich vereinzelt aber auch Passagen, die sich auf die Pflicht beziehen, andere zu achten, nämlich bei den "Liebespflichten gegen andere Menschen".

Hier formuliert Kant, dass die anderen zu beweisende Achtung "nicht bloß das Gefühl aus der Vergleichung unseres eigenen Werts mit dem des anderen (dergleichen ein Kind gegen seine Eltern, ein Schüler gegen seinen Lehrer, ein Niedriger überhaupt gegen seine Oberen aus bloßer Gewohnheit fühlt), sondern nur eine Maxime der Einschränkung unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in eines anderen Person, mithin die Achtung im praktischen Sinne (observantia aliis praestanda) verstanden wird." [12]

An dieser Stelle nimmt Kant auf seinen (in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelten) zweiten kategorischen Imperativ [13] Bezug, indem er schreibt, dass "die Pflicht der Achtung meines Nächsten in der Maxime enthalten [sei], keinen anderen Menschen bloß als Mittel zu meinem Zwecke abzuwürdigen". [14]

Diesen Gedanken, dass man Menschen nicht "bloß als Mittel zu meinem Zweck" benutzen dürfe, hat Günter Dürig aufgegriffen und zur Definition von Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen. Bei ihm taucht wie bei Kant die Formulierung auf, dass Menschen nicht zu einem bloßen Mittel herabgewürdigt werden dürfen. Dürig benutzte außerdem die Formulierungen "vertretbare Größe" und "Objekt".

Das Bundesverfassungsgericht hat letztere Formulierung aufgegriffen. In vielen Entscheidungen des Gerichts wird befunden, dass es mit der Würde des Menschen unvereinbar sei, ihn zum bloßen Objekt der Staatsgewalt zu machen. [15]

Jüngst taucht diese Formulierung im Urteil zum Luftsicherheitsgesetz auf, in dem das Gericht entschieden hat, dass die Passagiere einer entführten Maschine im Falle eines Abschusses als "bloße Objekte" behandelt würden. Das Bundesverfassungsgericht zitiert Kant in diesen Entscheidungen nicht (nicht einmal Dürig hat dies in seinem wegweisenden Aufsatz getan), aber die Wurzeln der sog. Objektformel im Werk Kants sind unverkennbar.

Ehrfurcht vor dem Namen dieses großen deutschen Philosophen sollte uns nicht Grund genug sein, das Problem der Begründung von Menschenwürde als gelöst anzusehen.

Es bleibt die Frage: Wie überzeugend sind die vorgebrachten Ableitungen?

Gegen Kants Begründung werden verschiedene Einwände erhoben. Ein Problem ergibt sich aus seiner Unterscheidung von Tugend- und Rechtspflichten. Denjenigen Lesern, die die Metaphysik der Sitten kennen, ist die Aufteilung in Rechts- und Tugendlehre bekannt.

Die Stellen, in denen Kant von der Würde des Menschen spricht, stehen in der Tugendlehre, nicht in der Rechtslehre. Es fragt sich deshalb, ob eine Bezugnahme auf Kant noch überzeugt, wenn sich der Interpret die Freiheit nimmt, Pflichten der Achtung, die Kant auf die Tugendlehre beschränkt, zu den Rechtspflichten umzugruppieren. [16]

Ein weiteres, viel diskutiertes Problem ist die Kants Argumentation zugrunde liegende Unterscheidung zwischen "homo noumenon" und "homo phaenomenon". Zeitgenössische Autoren, und ich schließe mich diesen Bedenken an, sehen die Begründbarkeit einer solchen Doppelnatur skeptisch. [17]

Dieses Problem ist zu umgehen, indem man sich nicht mehr unmittelbar auf Kants Text stützt, aber nichtsdestotrotz an dem Gedanken festhält, dass Menschen Fähigkeiten aufweisen, die sie von anderen Lebewesen unterscheiden. Als Alternative wird auf andere klassische Texte verwiesen.

Es bietet sich etwa die Rede Giovanni Pico della Mirandolas Über die Würde des Menschen an. Danach liegt die Besonderheit des Menschen darin, dass er im Gegensatz zum Tier nicht auf ein bestimmtes Dasein festgelegt, sondern fähig und frei ist, sich selbst zu entwerfen. [18]

Im neueren moralphilosophischen Schrifttum finden sich Ansätze, die insoweit mit Kants Ansatz verwandt sind, als sie sich mit der Frage beschäftigen, was dem Menschen eigentümliche Qualitäten sind, ohne aber die problematische Differenzierung in homo noumenon und homo phaenomenon aufzunehmen.

Bekannt ist etwa der Aufsatz des amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt zum Thema Freedom of the Will and the Concept of a Person. Frankfurt beginnt mit dem Gedanken, dass auch Tiere in der Lage sind, Wünsche und Motive zu haben und Entscheidungen zu treffen.

Was aber Menschen auszeichne, sei die Fähigkeit, seine Wünsche und Motive auf einer zweiten, höheren Ebene selbst zu bewerten. Nur der Mensch könne Wünsche auf einer zweiten Ebene entwickeln, die es ihn wünschen lassen, einen Wunsch auf erster Stufe nicht zu haben. Man kann auf der zweiten Stufe wünschen, sich nicht zu wünschen, eine Zigarette zu rauchen. In diesen selbstreflexiven Wünschen der zweiten Ebene liege der Grund für das Konzept der Person. [19]

In diesen neueren Ansätzen steckt nach meiner Auffassung ein überzeugender Kern. Man könnte sich zwar darüber streiten, wie autonom Menschen tatsächlich sind (bekanntlich wird dies im neueren Schrifttum zur Hirnforschung gelegentlich bezweifelt). Trotzdem sind Phänomene wie Selbstreflexion Teil der menschlichen Erfahrungswelt, und es erscheint deshalb nicht abwegig, darauf abstehend besondere, nur dem Menschen inhärente Qualitäten zu begründen.

Die entscheidende Frage ist allerdings: Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen, dass Menschen besondere Eigenschaften aufweisen, die sie von Tieren und Pflanzen unterscheiden?

Die meisten Arbeiten zum Thema Menschenwürde enden mit der Entwicklung eines eigenschaftsbezogenen Arguments. Dahinter steht die Annahme, dass die Menschenwürde begründet sei, wenn Besonderheiten des Menschen identifiziert werden.

Hier fehlt aber ein Argumentationsschritt. Aus der Sicht des Rechtes und damit der Rechtsphilosophie ist die Frage, ob der Mensch eine Menschenwürde hat, für sich genommen unwichtig. Das bloße Haben einer "dem Menschen inhärenten" Eigenschaft mag eine schöne Sache sein, aber zu einer für das Recht interessanten Frage wird diese Eigenschaft erst, wenn schädliche Konsequenzen für die Menschenwürde drohen.

Von Interesse sind die Behandlung eines Menschen durch den Staat und die Behandlung eines Menschen durch andere Menschen. Möglichen Verletzungen von Menschenwürde ist durch Schutz- und Achtungspflichten zuvorzukommen. Deshalb muss begründet werden, warum eine bestimmte Handlung (unter Umständen auch ein Unterlassen) die Menschenwürde verletzt.

Legt man etwa Kants Bild des Menschen als homo noumenon zugrunde, so bleibt unklar, welche Handlungen eigentlich geeignet sind, diesen Status zu verletzen oder zu gefährden. Wenn ein Polizeibeamter einem Beschuldigten Stromschläge verabreicht, um diesen zu einem Geständnis zu bewegen, so quält und verletzt er das Opfer als empirisches Wesen - aber er beeinträchtigt dessen Status als homo noumenon und die darauf aufbauende Würde nicht.

Der Theologe Michael Moxter hat dies prägnant formuliert: "Die Mitgliedschaft in einem nur jenseitigen Reich der Zwecke bliebe auch dann unberührt, wenn man einem Menschen seinen bloß empirischen Kopf abschlüge." [20] Als moralisches Subjekt ist jeder Mensch unverletzbar.

Dieser Einwand trifft nicht nur die auf Kant aufbauenden Begründungsansätze. Er gilt auch, wenn man die relevanten Eigenschaften des Menschen in einfacherer Weise beschreibt, etwa die Fähigkeit zur reflexiven Selbstbewertung auf einer zweiten Ebene. Selbst durch schwere Misshandlungen werden diese Eigenschaften des Betroffenen in der Regel nicht tangiert.

Man könnte sich allenfalls vorstellen, dass durch Eingriffe in das Gehirn die Fähigkeit zerstört wird, Bewertungen auf zweiter Stufe vorzunehmen. In einem solchen Falle müsste man zu dem Ergebnis kommen, dass mit dem Verlust dieser Fähigkeit auch die Menschenwürde des Betroffenen verletzt wird. Aber für viele Konstellationen, bei denen wir uns über die Menschenwürdeverletzung im Ergebnis wohl problemlos verständigen könnten, verliert der Betroffene nicht das, was die spezifischen Menschenqualitäten ausmacht.

Ein Beispiel: Die Durchführung medizinischer Experimente mit unfreiwilligen Teilnehmern, etwa Strafgefangenen, die die Betroffenen körperlich schwer verletzen, beeinträchtigt nicht ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion.

Es ist deshalb nicht Erfolg versprechend, nach bestimmten menschlichen Eigenschaften zu suchen, die es rechtfertigen könnten, dem Menschen eine besondere Würde zuzuerkennen. Wie immer man solche Eigenschaften definiert: Wenn man sie einfach hat und sie nicht oder allenfalls unter sehr ungewöhnlichen Umständen tatsächlich zerstört werden können, bedürfte man des Schutzes und der Achtung seiner Menschenwürde nicht.


Würde als individuelle Leistung

Damit sind wir aber mit unserem Thema noch nicht zu Ende. Das ontologische Verständnis von Menschenwürde ist nur ein, wenn auch beliebter Begründungsansatz. Es bleiben andere.

Eine Möglichkeit, sich dem Begriff "Menschenwürde" zu nähern, liegt darin, beim Begriff "Würde" anzusetzen. Beim geschichtlichen Rückblick in die Antike führt dies zu Vorstellungen von "dignitas", "honestas" und "nobilitas". [21]

In der deutschen Verfassungslehre, aber auch in rechtsphilosophischen Arbeiten wird verschiedentlich Würde in einen christlichen Kontext eingeordnet. Die "dignitas humana" habe, so etwa Josef Isensee, keine andere Begründung als den christlichen Glauben, sie sei unmittelbares Derivat des Christentums. [22]

Das Stichwort "Gottesebenbildlichkeit des Menschen" fällt häufig in diesem Zusammenhang [23] - was allerdings ebenfalls die Frage aufwirft, warum Menschen exklusiv dieser Status zugesprochen wird, nicht aber anderen Lebewesen. Es bedarf keiner allzu großen Überlegungen, um bei Tieren Fähigkeiten auszumachen, die wir Menschen nicht haben (wir können z.B. bedauerlicherweise nicht fliegen). Warum die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, nicht aber die oft weit überragenden körperlichen Fähigkeiten von Tieren zumindest gleichwertige Demonstrationen göttlicher Schöpfungskraft sein könnten, bleibt offen. [24]

Das Argument "Gottesebenbildlichkeit" führt aus mehreren Gründen nicht weiter. Zum einen könnte es nur überzeugen, wenn sich alle darüber einig sind, dass Gott als der entscheidende Bezugspunkt für die Würde des Menschen existiert. Zum anderen ist auch für Gläubige die Frage offen, warum Menschen Gottes Ebenbild sein sollen, nicht aber andere Lebewesen oder die unbelebte Natur.

Neben der Bezugnahme auf Gottesebenbildlichkeit gibt es andere Argumente, die den Begriff "Würde" vor einem christlichen Hintergrund interpretieren, ohne zwingend Gottesglauben vorauszusetzen. Robert Spaemann hat sich in diesem Sinn verschiedentlich mit der Menschenwürde beschäftigt. Er verweist auf die Haltung von Menschen, die Würde in Situationen finden, die objektiv demütigend sind. Als eindringliches Beispiel wird der Kreuzestod Jesu' angeführt, aber auch der Märtyrer, der sich für seinen christlichen Glauben opfert. [25]

Dieses Verständnis von Würde als Haltung in großer Bedrängnis ist grundsätzlich auch ohne die christliche Einkleidung als menschliche Qualität nachvollziehbar. Ähnliches gilt für ein anderes Kriterium, das Spaemann anführt: Er sieht Würde auch darin, dass ein Mensch fähig sei, sich von seinen Trieben und Interessen zu distanzieren. [26]

Die soeben genannten Konzepte beruhen darauf, dass Basis von Würde die Leistung eines Individuums ist. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu einem ontologischen Verständnis von Würde: Man "hat" nicht einfach Menschenwürde, sondern erwirbt Würde, in dem man sich in schwierigen Situationen bewährt. Man kann dies als "Menschenwürde durch Leistung" oder "erworbene Menschenwürde" zusammenfassen.

Ein weiterer Vertreter eines leistungsbezogenen Verständnisses von Würde war der Soziologe Niklas Luhmann. Luhmann führte aus: "Die Würde des Menschen ist keineswegs eine Naturausstattung ... Würde muss konstituiert werden. Sie ist das Ergebnis schwieriger ... teils bewusster, teils unbewusster Darstellungsleistungen ... Eine einzige Entgleisung, eine einzige Indiskretion kann sie radikal zerstören. Sie ist also alles andere als 'unantastbar'." [27]

Ist mit dem Verweis auf Menschenwürde als Leistung des Einzelnen ein adäquates Verständnis gefunden?

Dies kommt darauf an, welche Funktion die Bezugnahme auf Menschenwürde hat. Man kann über "die Würde des Menschen" im Rahmen allgemeiner Reflektionen über Sinn und Wert des menschlichen Lebens nachdenken. Insoweit mag ein Verweis auf "persönliche Haltung" (im Sinne von Indifferenz gegen die Übel der Welt, oder im Sinne einer Distanzierung von Trieben) überzeugende Lebenskonzepte beschreiben (mag; dies muss hier offen bleiben).

Wenn wir über Menschenwürde in einem rechtlichen Kontext reden, steht dahinter die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG. Es geht dann nicht um die sich für jeden Einzelnen stellende Frage: "wie soll ich richtig leben?", also um Moral im weiteren Sinne [28], sondern um einen anderen Anspruch: den Anspruch, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.

Geht man von dieser Zielrichtung aus, so geht es um den Schutz von Menschen, und zwar in erster Linie um den Schutz von Menschen vor Misshandlungen durch andere Menschen (Privatpersonen oder Vertreter des Staates). Ein solches schützendes Verständnis von Menschenwürde ist mit dem Bild von Menschenwürde, wie Spaemann es skizziert, schwierig zu vereinbaren.

Wenn Menschenwürde in der aufrechten Haltung des Einzelnen besteht, sind Eingriffe von außen nicht möglich. Fokus der Aufmerksamkeit ist dann nicht die Misshandlung eines Menschen als solche, sondern die Art und Weise, wie der Misshandelte sich bewährt. Es ist nicht das Opfer, das ein Problem mit seiner Würde hat (dieses gewinnt ja gerade Würde durch das Ertragen der Misshandlung), sondern im Gegenteil der misshandelnde Täter (dieser benimmt sich unwürdig). [29]

Ein weiteres Problem ist, dass es sich um ein anti-egalitäres Konzept handelt, wenn Würde von unterschiedlichen Leistungen des Einzelnen abhängt: Würdevolles Verhalten kontrastiert mit würdelosem. Manche sind fähig, klaglos zum Märtyrer zu werden und manche erbringen hervorragende Leistungen der Darstellung, andere dagegen nicht.

Ein anti-egalitäres Verständnis von Würde passt nicht zu dem, was wir heute mit Art. 1 Abs. 1 GG verbinden. Die Aufnahme der Menschenwürdeklausel ins Grundgesetz bezweckte die Distanzierung vom nationalsozialistischen Unrechtsregime. Menschen vor Verfolgungen zu schützen, heißt sie davor zu schützen, wegen "Andersartigkeit" ausgegrenzt und misshandelt zu werden.

Verfolgungen, die an Andersartigkeit anknüpfen, könnten nicht nur mit (angeblicher) genetischer Ausstattung, sondern auch mit (angeblichem) individuellem Versagen begründet werden. Um derartiges zu verhindern, bedarf es einer Konzeption von Menschenwürde, die von einer "im Kern" bestehenden Gleichheit der Menschen ausgeht. Würdevorstellungen, die individuelle Leistungen betonen, sind nicht geeignet, zu begründen, warum man alle Menschen gegen Misshandlungen schützen sollte.


Menschliche Interessen

Bisher habe ich mich darauf beschränkt, Konzeptionen von Menschenwürde zu kritisieren. Weder der Verzicht auf Präzisierung noch "Menschenwürde als Eigenschaft" noch "Menschenwürde als Leistung" haben sich als überzeugend erwiesen. Auf dem verbleibenden Raum soll ein anderes Konzept zur Präzisierung von Menschenwürde vorgestellt werden.

Es beruht auf zwei Elementen: zum einen darauf, dass Menschen bestimmte Interessen haben, und zum anderen auf der Vorstellung eines wechselseitigen Versprechens, bestimmte, fundamentale Interessen verletzende Verhaltensweisen zu unterlassen.

Dieser Ansatz setzt den Schwerpunkt nicht darauf, was Menschenwürde ist, sondern darauf, welche Verhaltensweisen Menschenwürde verletzen. Insoweit unterscheidet sich Menschenwürde von anderen Grundrechten. Man denke z.B. an körperliche Integrität oder Leben: An seinem Leben, seiner körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit kann man sich auch erfreuen, wenn man alleine in seinem Wohnzimmer sitzt.

Es macht dagegen wenig Sinn, dasselbe für Menschenwürde zu sagen. [30] Menschenwürde wird erst im Kontakt mit anderen relevant, in Form der Forderung, nicht in menschenunwürdiger Weise behandelt zu werden. Es handelt sich um einen Begriff, der Relationen beschreibt. [31]

Aus grundlegenden Bedingungen der menschlichen Existenz kann abgeleitet werden, welche besonders wichtigen Interessen Menschen haben und was sie nicht erdulden wollen. Menschen wollen nicht, dass andere ihnen bestimmte "üble Dinge" antun.

Diese Bezugnahme auf "üble Dinge" und "besonders wichtige menschliche Interessen" klingt noch sehr allgemein: Der Gedanke bedarf der Konkretisierung. An dieser Stelle gilt es zunächst, auf vermeintliche Nachteile einer interessenbezogenen Herangehensweise einzugehen. Wie bereits dargelegt, geht die herrschende Auffassung im deutschen Schrifttum von einem ontologischen Konzept der Menschenwürde aus.

Wer ein ontologisches Konzept vertritt, wird gegen einen interessenbezogenen Ansatz vorbringen, dass das Abstellen auf "fundamentale menschliche Interessen" Entscheidungen voraussetzt. Es bedarf nämlich einer Entscheidung darüber, welche Interessen als "fundamental" eingestuft werden. Dies ist aus der Sicht derjenigen, die einfach auf die Zugehörigkeit zur Spezies "homo sapiens" setzen, ein wesentliches Manko. Wenn jedes menschliche Wesen qua Spezieszugehörigkeit automatisch Menschenwürde hat, so lautet das Argument, dann gibt es keinen Menschen, der darüber befinden muss. [32]

Der hier vertretene Ansatz setzt dagegen Entscheidungen voraus, denn nur die Verletzung fundamentaler menschlicher Interessen zählt als Verletzung von Menschenwürde und es bedarf der Unterstellung einer wechselseitigen Vereinbarung, auf die fundamentalen Interessen anderer Menschen Rücksicht zu nehmen.

Aber ich gebe zu bedenken, dass kein Konzept zur Präzisierung des Anwendungsbereiches von Menschenwürde ohne Festlegungen auskommt. Zu erinnern ist nur an den Streit, ob der befruchteten Eizelle oder erst dem geborenen Kind Menschenwürde zukomme. [33]

Entscheidend ist, ob für derartige Festlegungen überzeugende Begründungen gegeben werden können. Wenn man sich auf die fundamentalen Interessen aller Menschen konzentriert, ist ein Konsens wahrscheinlicher als beim Abstellen auf klassische eigenschaftsbezogene Begründungen wie "Gottesebenbildlichkeit" oder "der Mensch als homo noumenon".

Wer nicht an Gott glaubt oder wer Skepsis gegenüber der Konstruktion des "homo noumenon" hegt, wird nicht zu überzeugen sein. Wesentlich einfacher ist es, zum Beispiel über die Aussage "Menschen wollen nicht gequält werden" Konsens herzustellen - und dies unabhängig von kulturell geprägten Kontexten.

Damit ist eine Aussage möglich, die wohl kaum jemand in Frage stellen würde: Eine Verletzung der Menschenwürde eines anderen Menschen liegt vor, wenn dieser gegen seinen Willen erheblichen körperlichen oder seelischen Qualen unterworfen wird. Welche Interessen von Menschen sind darüber hinaus so bedeutsam, dass ihre Missachtung die Einordnung als "Verstoß gegen die Menschenwürde" verdient?

Es sind, wie gesagt, im deutschsprachigen Schrifttum nicht allzu viele Autoren, die Menschenwürde nicht ontologisch auffassen, sondern statt dessen menschliche Interessen und die daraus zu ziehenden Folgerungen für den Umgang von Menschen miteinander in den Vordergrund rücken.

Es gibt aber einige, Julian Nida-Rümelin [34] und andere [35], die auf das Konzept Selbstachtung Bezug nehmen. Hintergrund ist oft ein 1996 erschienenes Buch des israelischen Philosophen Avishai Margalit mit dem Titel The Decent Society. Für Margalit ist "self-respect" wesentlicher Anknüpfungspunkt. Eine Demütigung liege vor, wenn die Behandlung eines Menschen geeignet sei, seine Selbstachtung zu beschädigen.

Die Hauptthese Margalits ist, dass demütigende Behandlungen in einer anständigen Gesellschaft (a decent society) unterbleiben müssen. Obwohl der Begriff "Selbstachtung" sich sprachlich auf das einzelne Individuum und dessen Bewertung seiner selbst bezieht, setzt das Konzept eine Welt voraus, die die Interaktion mit anderen vorsieht. Selbstachtung basiert auf dem Respekt anderer. [36]

Die Aufmerksamkeit, die Margalits Buch international gefunden hat, erklärt sich wahrscheinlich zum Teil durch weltweit zu beobachtende Phänomene, die mit dem Stichwort "Multikulturalismus" beschrieben werden. Es dürfte kein Zufall sein, dass Margalit seine Analyse vor dem Hintergrund der sehr stark fragmentierten israelischen Gesellschaft geschrieben hat.

Es liegt nahe, dass das Bedürfnis nach Respekt um so mehr wächst, je heterogener die Gruppen innerhalb einer Gesellschaft ausfallen. Je fragiler der soziale Status mancher Gruppen ist, umso größer werden Bedürfnisse nach Achtung und Respekt. Eine weitere Attraktion des Gesellschaftsentwurfes Margalits liegt darin, dass er bescheidenere Anforderungen erhebt, als sie mit dem Stichwort "gerechte Gesellschaft" verbunden werden. [37]

Nach seinem Konzept müssen Staat und Gesellschaft "decent", also "anständig", mit Menschen umgehen. Anspruchsvolle Konzepte von materieller, wirtschaftlicher Gleichheit setzen dagegen voraus, dass die ökonomische Struktur bestehender Gesellschaften grundlegend verändert werden müsste. Die Hochzeiten einer anspruchsvollen Sozialphilosophie, die auf eine auch materielle Gleichheit von Menschen zielt, sind wahrscheinlich vorbei.

Außerdem wird zusehends offensichtlich, dass politischen Handlungsspielräumen für soziale Reformen enge Grenzen gesetzt sind. Die Verwirklichung von Gerechtigkeitskonzepten stößt in komplexen, u.a. auch durch den Prozess der Globalisierung sich ändernden, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umgebungen auf Schwierigkeiten. Auch vor dem Hintergrund der bescheidener gewordenen Ansprüche zu sozialer Gerechtigkeit erfährt das Thema "Menschenwürde" Aufwertung.

Unter Rückgriff auf Margalits Ansatz kann man Kriterien zum Erkennen von Menschenwürdeverletzungen entwickeln. Menschenwürdig sind Handlungen und Zustände, die Selbstachtung intakt lassen; menschenunwürdig sind dagegen Handlungen, die geeignet sind, die Selbstachtung der Betroffenen zu zerstören. Wichtig ist hier der Passus: geeignet, Selbstachtung zu zerstören.

Es dürfte relativ einfach sein, Einigkeit darüber zu erzielen, dass das subjektive Gefühl, gekränkt worden zu sein, nicht ausreichen kann. Ob und wie stark sich jemand in einem bestimmten Kontext in seiner Selbstachtung verletzt fühlt, hängt stark von seiner Persönlichkeit ab. Es bedarf deshalb eines objektivierenden Standards (Margalit spricht von "sound reasons" [38], Nida-Rümelin davon, dass man zwischen faktischen Ursachen und Gründen unterscheiden müsse [39]).

Entscheidend ist, ob eine Handlung oder Situation sich für einen weder besonders dickfelligen noch besonders dünnhäutigen Beobachter als erhebliche Erniedrigung darstellt.

Dass es auf das tatsächliche Empfinden von gestörter Selbstachtung durch das konkret betroffene Opfer nicht ankommen kann, ergibt sich auch aus folgender Überlegung: Bei einer Demütigung (etwa rassistischer Hetze) kann zwar in der nachfolgenden psychischen Situation des Betroffenen der Kern des Unrechts liegen. Wird das Opfer dagegen getötet, bleibt ihm keine Zeit, um unter beschädigter Selbstachtung lange zu leiden.

Wenn also das zeitlich nachfolgende Grübeln und Leiden an beschädigter Selbstachtung ausschlaggebend wäre, wären etwa die von den Nationalsozialisten vorgenommenen Tötungen behinderter Menschen nicht als Verstoß gegen deren Menschenwürde einzuordnen - ein merkwürdiges Ergebnis. Entscheidend ist also nicht eine tatsächlich durchlittene Kränkung, sondern der objektiv erniedrigende Charakter einer Handlung.

Wann ist aber bei einer Betrachtung von außen eine erhebliche Erniedrigung zu bejahen?

In der Auseinandersetzung mit dieser Frage setzt Ralf Stoecker bei einer Analyse nationalsozialistischer Erniedrigungen an (Beispiele sind jüdische Bürger, die auf der Straße knieend diese mit einer Bürste putzen müssen, und die Opfer medizinischer Experimente in Konzentrationslagern). [40]

Derartige erniedrigende Konstellationen lassen sich durch weitere Beispiele ergänzen: Dazu gehören erhebliche sexuelle Attacken, etwa Vergewaltigungen, oder rassistische Hetzreden gegen Minderheiten. Was ist derartigen Verhaltensweisen gemeinsam, was trägt in diesen Situationen die Einschätzung: "erhebliche Erniedrigung"?

Ein Element ist die Ohnmacht des Opfers und sein völliges Ausgeliefertsein an die Situation, ein zweites Element die von den Tätern explizit oder implizit vermittelte Verachtung. Da jedenfalls symbolisch vermittelte Verachtung eine Komponente des Merkmals "Erniedrigen" ist, liegt es nahe, eine intentionale (Erniedrigung beabsichtigende) Handlung für das Urteil "Verletzung von Menschenwürde" vorauszusetzen. [41]

Dieser Punkt ist allerdings stark umstritten. Nach anderer Ansicht lassen auch strukturelle Demütigungen ohne gezielte intentionale Handlungen Beschädigungen von Selbstachtung befürchten. [42] Es würde demzufolge das schlichte Unterlassen der Staatsorgane genügen, für bedürftige Menschen Wohnung, materiellen Unterhalt und medizinische Versorgung zu organisieren, ohne dass es einer absichtlichen Erniedrigung der Betroffenen in einer konkreten Interaktion bedarf.

Folgte man dieser zweiten Auffassung, stünde aber ein weiteres Problem, nämlich die Notwendigkeit, Verletzungen der Menschenwürde von den Anforderungen des Sozialstaatsprinzips abzugrenzen. Nicht jeder materielle Mangel, der unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten zu kritisieren ist, bedeutet auch eine Demütigung der Betroffenen, die deren Menschenwürde missachtet.

Die beiden bisher genannten Konstellationen "Zufügen von erheblichen körperlichen oder seelischen Qualen" und "Erniedrigen" überschneiden sich in weiten Bereichen. Wer einen anderen quält, erniedrigt ihn unter den meisten Umständen auch. Zu überlegen ist, ob mit diesen Kriterien alle Konstellationen von Menschenwürdeverletzungen abzudecken sind.

Probleme ergeben sich, wenn man an Fälle des sogenannten großen Lauschangriffs denkt, also das Abhören von Tatverdächtigen in einer "verwanzten" Wohnung, oder an eine Totalüberwachung, wie sie in dem Film Das Leben der Anderen dargestellt wurde. Wird hierdurch nicht auch Menschenwürde verletzt, obwohl dem nichtsahnenden Opfer im Unterschied zu den anderen Fällen nicht vermittelt wird, dass man es verachtet?

Erstens ist der entscheidende Punkt bei solchen Maßnahmen, dass sie heimlich durchgeführt werden, also dem Betroffenen nichts kommuniziert wird.

Zweitens sind Aktivitäten von Strafverfolgungsbehörden nicht ohne weiteres als Ausdruck von Verachtung zu werten. Um derartige Sachverhalte zu erfassen, ist es erforderlich, die Beschreibung von Verletzungen der Menschenwürde um einen weiteren Punkt zu erweitern. Ein weiterer Typ menschenwürdewidriger Aktivitäten zeichnet sich dadurch aus, dass in den Kernbereich der Privatsphäre eingegriffen wird.

Es ergibt sich aus dem Ausgeführten, dass ich keine griffige Einheitsdefinition anbieten kann, die mit wenigen Worten sämtliche Fälle menschenwürdewidrigen Verhaltens abdecken könnte. Stattdessen muss man sich damit abfinden, dass es unterschiedliche Typen von Verhaltensweisen gibt, die fundamentale Interessen von Menschen verletzen und die deshalb als Verletzung von Menschenwürde einzuordnen sind.


Zusammenfassung

1. Menschenwürde wird zumeist als eine Eigenschaft des Menschen oder eine Leistung individueller Menschen beschrieben. Für eine Herangehensweise, die fragt, was im Sinne von Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG gegen Eingriffe anderer Menschen geschützt und geachtet werden soll, führt dies jedoch nicht weiter. Man kann zwar dem Menschen eigentümliche Eigenschaften benennen - diese sind aber durch Handlungen Anderer typischerweise nicht verletzbar. Leistungen sind schon deshalb nicht als Basis für Menschenwürde geeignet, weil diejenigen, die diese Leistungen nicht erbringen, damit aus dem Schutz der Menschenwürdeklausel herausfallen würden.

2. Von Interesse ist vielmehr, welche Verhaltensweisen die Pflicht aktivieren, Menschenwürde zu schützen. Eine Verletzung von Menschenwürde liegt vor, wenn das Verhalten fundamentale Interessen von Menschen verletzt. Die wichtigsten Typen von Menschenwürdeverletzungen lassen sich mit "erhebliches Quälen", "erniedrigen" und "Verletzung des Kernbereichs der Privatsphäre" umschreiben.


Anmerkungen

[1] Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral. In: Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Bd. VI, 1977, S.206.

[2] Hoerster: Juristische Schulung. 1983, S.93, 95f. - Ders.: Ethik des Embryonenschutzes. 2002, S.24.

[3] Heuss: Jahrbuch des öffentlichen Rechts n.F., 1951, S.49.

[4] Haltern: In: Bahr u. Heinig (Hg.): Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. 2006, S.93, 117.

[5] Haltern, a.a.O.

[6] 1934, 2. Aufl., S.49ff. - Schmitt zieht etwa eine Parallele zwischen dem Ausnahmezustand und dem theologischen Wunder, a.a.O., S.49.

[7] Archiv des öffentlichen Rechts 42(1956), S.117ff.

[8] A.a.O., S.117.

[9] Vgl. Lorz: Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis und die Philosophie der Freiheit Kants. 1993, S.271 ff. - Luf: Festschrift für E.A. Wolff 1998, S.307ff. - Hruschka: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. 2002, S.463ff.

[10] Vgl. Dreier. In: Ders. (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn. 38.

[11] Kant: Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe (Hg. Weischedel), Bd. VIII, 1977, S.569 (§ 11).

[12] Kant, a.a.O., S.585 (§ 25).

[13] Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werkausgabe (Hg. Weischedel): Bd. VII, 1974, S.61.

[14] (Fn. 11), S.586 (§ 25,), ebenso S.600f (§ 38).

[15] BVerfGE 30, 1 ,25; 96, 375, 399; 115, 118, 154.

[16] Höffe: Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs. 1996, S.86. - von der Pfordten: Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S.501, 516. - Dreier (Fn. 10), Art. 1 I Rn. 13.

[17] Frankena: Philosophical Topics 14(1986), S.149, 159. - Raz: Value, Respect and Attachment. 2001, S.130ff. - Seelmann. In: Dreier (Hg.), Philosophie des Rechts und Verfassungstheorie, 2000, S.125, 128f. - Hörnle: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. 2003, S.318, 323. - Ladwig. In: Stoecker (Hg.), Menschenwürde, Annäherung an einen Begriff, 2003, S.35, 38ff.

[18] Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen. Aus dem Lat. v. Herbert Werner Rüssel, 4. Aufl. 1996, S.10ff.

[19] Frankfurt. In: Ders., The Importance of What We Care About. Philosophical Essays, 1988, S.11ff.

[20] Moxter. In: Bahr u. Heinig (Fn. 4), S.81. - Ebenso U. Neumann: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. 1998, S.153, 164f.

[21] Schaede. In: Bahr u. Heinig (Fn. 4), S.20ff.

[22] Isensee. In: Böckenförde u. Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde, 1987, S.138, 165f.

[23] Zur "imago dei"-Lehre vgl. Pannenberg. In: Kerber (Hg.), Menschenrechte und kulturelle Identität, 1991, S.61, 72. - Vögele: Menschenwürde zwischen Recht und Theologie, 2000, S.393, 401, 403, 407, 474ff. - Schaede (Fn. 21), S.7, 32f., 42f. - Starck, Juristenzeitung 1981, S.457, 459f.

[24] Vgl. Margalit: The Decent Society. 1998 (Taschenbuchausgabe), S.60ff.

[25] Schaede (Fn. 21), S.28. - Spaemann. In: Böckenförde u. Spaemann (Fn. 22,), S.299.

[26] Spaemann, a.a.O., S.304.

[27] Grundrechte als Institution, 1965, S.68f.

[28] Vgl. zu der Unterscheidung von Moral im weiteren und im engeren Sinn Bayertz: Warum überhaupt moralisch sein? 2006, S.34ff.

[29] Vgl. Hoffmann. In: Schweidler, Neumann u. Brysch (Hg.), Menschenleben - Menschenwürde, 2003, S.111, 121f.

[30] Vgl. auch Baumann. In: Stoecher (Fn. 17), S.19, 27.

[31] Hofmann: Archiv des öffentlichen Rechts 118 (1993), S.353, 364. - Antoine: Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung. 2004, S.131.

[32] Spaemann (Fn. 25), S.305. - Stein. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2002, S.855, 861ff. - Braun. In: Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, 2004, S.81, 85ff.

[33] Vgl. aus der schon unüberschaubaren Diskussion Spaemann: Personen. 1996, S.252ff. - Picker: Menschenwürde und Menschenleben. 2002. - Stein (Fn. 32), S.865 ff. - Hoerster (Fn. 2, Ethik des Embryonenschutzes), S.87ff. - Schweidler, Hoffmann, Höfling, Picker. In: Schweidler/Neumann/Brysch (Fn. 29), S.13ff.; 111ff.; 165ff.; 197ff. - Böckenförde. In: Juristenzeitung 2003, S.809, 811, 813. - Braun (Fn. 32), S.83ff. - Wodarg. In: Kettner (Fn. 32), S.24f.

[34] Über menschliche Freiheit, 2005, S.131ff.

[35] Baumann (Fn. 30), S.26ff. - Schaber. In: Stoecker (Fn. 17), S.119, 124ff. - Ladwig (Fn. 17), S.35, 50ff - Stoecker. In: Ders. (Fn. 17), S.133ff. - Neumann. In: Kettner (Fn. 32), S.42, 61. - Heun. In: Bahr u. Heinig (Fn. 4), S.197, 210. - Vgl. auch Leist. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2005, S.597ff.

[36] Margalit (Fn. 24), S.115ff.

[37] Vgl. Joas: Braucht der Mensch Religion? 2004, S.130ff.

[38] (Fn. 24), S.9.

[39] (Fn. 34), S.132.

[40] Stoecker (Fn. 35), S.134ff.

[41] Baumann (Fn. 30), S.28f.

[42] Vgl. Schaber (Fn. 35), S.124.


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 22 - Sommer 2008, Seite 40-52
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2008