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GESELLSCHAFT/027: Die gesellschaftlichen Folgen des neoliberalen Marktmodells (diesseits)


diesseits 4. Quartal, Nr. 89/2009 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Die gesellschaftlichen Folgen des neoliberalen Marktmodells

Von Thomas Hummitzsch


Mit der Regierungsübernahme von CDU/CSU und FDP bestimmen künftig die Anhänger des Marktkapitalismus das Schicksal in der Bundesrepublik. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft aus humanistischer Perspektive?


Es gibt Situationen, die kann man nur absurd nennen. Seit der Bundestagswahl befinden wir uns in einer solchen. Nach dem Wahlerfolg des sogenannten bürgerlich-konservativen Lagers wird die Bundespolitik künftig von den marktliberalen Positionen von CDU/CSU und FDP bestimmt. Absurd ist es deshalb, weil diese Positionen, angelehnt an das neoliberale Weltbild, wesentlich zur Finanzkrise und infolge zu einer weltweiten Rezession beigetragen haben. In einer Zeit, in der Bedachtsamkeit, Augenmaß und Balance erforderlich wären, um ein nachhaltiges und sozial gerechtes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem neu aufzubauen, hat der Wähler den Parteien, die noch am ehesten dafür eintreten, das Vertrauen entzogen. So befinden wir uns in einer Situation, in der die marktgläubigen Ansichten der künftigen Regierungsparteien zwar keine gesellschaftliche Mehrheit, aber aufgrund der geringen Wahlbeteiligung eine politische Mehrheit errungen haben. Diese Positionen bestimmen in den nächsten vier Jahren das Schicksal der deutschen und anteilig auch der europäischen Gesellschaft. Was kommt damit auf uns Humanisten zu?


Theorie vom freien Markt

Vorreiter und Wegbereiter der neoliberalen Denkschule ist der US-Ökonom Milton Friedman. Friedman genießt den zweifelhaften Ruf, noch vor John Maynard Keynes als der einflussreichste Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts angesehen zu werden. Dies muss man nicht unbedingt positiv auslegen, wenngleich Friedman in den siebziger Jahren für seine Konsumtheorien den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hat. Friedmans Ruhm basiert hauptsächlich auf den fatalen gesellschaftlichen Auswirkungen seiner Theorie vom "freien Markt", die er jahrzehntelang an der Universität von Chicago gelehrt hat. Im Zentrum dieser Wirtschaftspolitik steht eine geradezu heilige Marktgläubigkeit. Demzufolge ist der Markt gerecht und effizient. Einem solchen Markt muss in den Augen der Verfechter des Neoliberalismus Platz geschaffen werden, global und regional, nach außen und nach innen.

Dafür muss zunächst die stufenweise Beseitigung einer öffentlichen Sphäre zugunsten einer absoluten Privatwirtschaft erfolgen. Das Schlagwort des "schlanken Staates" findet in diesen Gedanken seinen Ursprung. Der Staat soll sich auf die Förderung von Handel und Wandel beschränken und die Verteilung der Güter dem Markt überlassen. Dafür müssen dann die sozialen Sicherungsmechanismen und gesetzliche Regelungen, die dem Markt Grenzen setzen, wie Tarifverträge oder Klauseln zum Kündigungsschutz, Transferleistungen oder Wohlfahrtspflege, aufgekündigt werden. Man spricht hier auch von der Deregulierung des Marktes. Schlussendlich soll der Staat vom "gerechten Markt" abgelöst, Sozialausgaben reduziert und die Gesellschaft der absolut freien Marktwirtschaft überlassen werden.

Alles in Allem geht es den Neoliberalen also um das Entziehen staatlicher Hoheitsrechte und die allumfassende Privatisierung. Daher auch das neoliberale Credo "starving the beast". Die "Bestie Staat" soll verhungern, öffentliche Aufgaben werden an private Investoren verlagert. Damit einher geht eine gesellschaftspolitische Umorientierung dieser Unternehmen, weg von der Daseinsfürsorge hin zum profitorientierten Dienstleister. Seit den achtziger Jahren vollzieht sich dieser Wandel von der Sozialstaatspolitik zu einer Politik des freien Marktes nahezu ununterbrochen und seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems global.


Entmündigung des Wohlfahrtsstaates

Doch warum lassen Staaten, die sich zumindest teilweise einst als Wohlfahrtsstaaten begriffen haben, die eigene Entmündigung von der sozialen Verantwortung zu? Der Grund ist simpel. Die privaten Unternehmen agieren in der unbeschränkten Wirtschaft immer weniger im Sinne ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Sie ziehen sich aus ihrer sozialen Verantwortung zurück und überlassen den Staaten die stetig steigenden Kosten. Diese geraten in finanzielle Zwangslagen und beginnen, öffentliche Güter und Dienstleistungen zu verkaufen. Dieses System ist besser bekannt unter dem Namen "Thatcherismus". Unter keiner anderen Regierung wurde es in dieser Reinheit umgesetzt, wie unter der ehemaligen britischen Premierministerin. Um die Staatsinflation zu bekämpfen, fing Margaret Thatcher Anfang der achtziger Jahre mit dem Verkauf von Sozialwohnungen an. Nach und nach verscherbelte sie mit British Telecom, British Petroleum, British Airways und British Railways sowie regionalen Wasser- und Stromversorgern das staatliche Tafelsilber. Zugleich beschnitt sie den Einfluss der Gewerkschaften, schränkte die Arbeitnehmerrechte ein und reduzierte die Staatsausgaben im sozialen Bereich. Der Journalist Harald Schumann brachte diese neoliberale Wirtschaftspolitik auf den Punkt, indem er sagte: "Wettbewerb ist alles, Jobs sind nichts."

Diese Prozesse finden seit der Wiedervereinigung auch in Deutschland statt. Der Zusammenbruch der ehemaligen DDR bildete den Startschuss für die "Schock-Strategie", wie die renommierte kanadische Journalistin Naomi Klein die Methode der Neoliberalen zur Eroberung der weltweiten Wirtschaftsmärkte nennt. Das Desaster, egal ob durch ein politisch-historisches Erdbeben oder eine Naturkatastrophe hervorgerufen, wird von den Marktradikalen als "entzückende Marktchance" begriffen, um Tabula rasa zu machen und eine marktgläubige Gesellschaft von Grund auf neu zu errichten. Genau dies ist seither in Deutschland geschehen.

Unter der Kohl-Administration wurden nach der Wiedervereinigung zunächst die ehemaligen Staatsbetriebe der DDR veräußert und dann auch große öffentliche Unternehmen wie Lufthansa, Post oder Wasser- und Stromversorger. Zugleich verschuldete sich der Staat zunehmend durch die steigenden sozialen Lasten, die zugegebenermaßen aufgrund der finanziellen Belastung durch die Übernahme der am Boden liegenden Ost-Wirtschaft besonders hoch waren und wurde gegenüber den Unternehmen erpressbar. Diese forderten eine Schwächung der Gewerkschaften, weniger Arbeitnehmerrechte, ein unternehmerfreundlicheres Steuersystem und größere Mitbestimmung durch Lobbyismus und vieles mehr. Unter Rot-Grün wurden diese Forderungen aufgrund der kritischen Finanzsituation und dem Zwang zur Haushaltskonsolidierung wieder aufgegriffen. Ziel der Regierungsparteien seit 1998 war es, die Staatsverschuldung zu reduzieren und die Inflation sowie den Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu stoppen. Nicht alle diese Bestrebungen waren falsch, aber zahlreiche hatten fatale Folgen für die deutsche Gesellschaft.


Kurzfristige Gewinne, langfristige Transferleistungen

Dies kann exemplarisch auf verschiedenen Feldern veranschaulicht werden. So wurden in den vergangenen Jahren zehntausende Sozialwohnungen an private (und oft spekulativ tätige) Immobilienunternehmen verkauft, um kurzfristige Gewinne einstreichen zu können. Langfristig führt dies aber dazu, dass diese Wohnungen vom öffentlichen Wohnungsmarkt verschwinden und die sozial schlechter gestellten Bewohner aus diesen Wohnungen ausziehen und erneut auf Transferleistungen des Staates angewiesen sein werden. Die Gesellschaft verliert an Zusammenhalt. Die Entmischung beginnt bereits im Kindergarten, denn insbesondere in den Großstädten findet eine Trennung von Kindern bildungsferner und bildungsnaher Haushalte statt. Die öffentlichen Schulen verkommen aufgrund der schlechten finanziellen Ausstattung zunehmend zu Auffangbecken des sogenannten "sozialen Prekariats", denn finanzstarke Familien flüchten verstärkt in die privaten Alternativen. Die Entkoppelung der Löhne von tariflichen Vereinbarungen und die unterbezahlte Beschäftigung von Fachkräften über Beschäftigungsmaßnahmen führen in breiten Schichten zu existenzieller Verunsicherung. Damit löst sich die Bereitschaft zur Sorge für die Gemeinschaft zunehmend in Wohlgefallen auf.


Den Staat nicht aus Verantwortung entlassen

Aus der sozialen Fürsorge zieht sich der Staat immer mehr zurück und überlässt das Feld den freien Trägern. Auch wenn sich für den Humanistischen Verband so neue Betätigungsfelder ergeben, muss darauf geachtet werden, dass der Staat nicht aus seiner sozialen Verantwortung entlassen wird. Eine Übernahme staatlicher Fürsorgepflichten, dazu noch um jeden Preis, scheint weder sinnvoll, noch im Sinne des Humanismus. In diesem Zusammenhang sollten sich Humanistinnen und Humanisten der Diskussion öffnen, ob der Verband den von der öffentlichen Hand befeuerten bodenlosen Konkurrenzkampf der freien Träger um die Übernahme von Einrichtungen aus humanistischen Gesichtspunkten weiter betreiben will. Oder widersprechen die sich daraus ergebenden Arbeitsbedingen nicht dem humanistischen Anspruch nach Achtung und Selbstverwirklichung des Individuums? Und wäre eine alternative Verbandspolitik, die zwar aus dem neoliberalen Arbeitsmodell ausscheert, aber gleichzeitig das Risiko birgt, im Vergleich zu anderen Dienstleistern nicht mehr konkurrenzfähig zu sein, ein praktikabler Gegenentwurf? Eine Lösung, die dem humanistischen Selbstverständnis entspricht, scheint eine der großen Aufgaben des Humanistischen Verbandes in den kommenden Jahren zu sein.

Unsere Gesellschaft befindet sich in einer Phase der allumgreifenden Ökonomisierung des Alltags. Was noch nicht profitabel ist, wird profitabel gemacht, durch Privatisierung, Outsourcing oder rigide Kürzungen. Aus dem Blick geraten dabei die Menschen, die von dieser Politik am meisten betroffen sind, der Mittelstand, die sozial Schwachen und die künftigen Generationen. Die von diesen Prozessen betroffenen sozialen Schichten haben im Gegensatz zur Automobilindustrie, Pharmabranche oder den Banken keine finanzstarke Lobby. Der HVD könnte hier zu einem Interessenvertreter dieser Menschen werden. Dabei könnte er sein Profil als Vertretung der Konfessionsfreien ausbauen und zugleich auf das Eintreten für ein generell besetztes Verständnis von humanem Zusammenleben ausweiten.

Es steht zu befürchten, dass die Interessen der sozial schwachen und oft wehrlosen Menschen in der neoliberalen Welt der künftigen Regierung unter die Räder geraten. Die Parteiprogramme von CDU/CSU und FDP lassen dies vermuten. So will die FDP dafür sorgen, "dass sich Leistung wieder lohnt". Und auch das Regierungsprogramm der Unionsparteien will das gesellschaftliche Zusammenleben in der Bundesrepublik auf die Füße des Leistungsprinzips stellen. "Sozial ist, was Arbeit schafft!", heißt es knallhart. Was bedeutet dieses Leistungsprinzip aber für all jene, die in den Augen der Liberalen nichts mehr leisten, sei es aus persönlichen oder ihnen auferlegten Gründen? Wahrscheinlich schlichtweg nichts anderes, als dass sie durch das soziale Raster fallen. Denn wer nichts leistet, darf auch nichts beanspruchen. Der solidarische Grundgedanke, wie er dem Humanismus eigen und selbstverständlich ist, gerät so ins Abseits. Zwar ist im FDP-Programm auch von "selbstbestimmtem und eigenverantwortlichem Handeln" der Bürger die Rede, die FDP meint hier jedoch vorwiegend die Entlassung des Staates aus der Verantwortung gegenüber dem Individuum.


Politik des Leistungsprinzips

Der Humanistische Verband muss die künftige Tagespolitik aufmerksam verfolgen und kritisch begleiten, um den Grundgedanken der Solidarität im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu bewahren. Denn es kann nicht im Sinne des humanistischen Selbstverständnisses sein, eine Politik des Leistungsprinzips unkommentiert zu lassen. Dies sollte der Verband auch stets beachten, wenn es darum geht, neue soziale Projekte zu übernehmen. Diese sollten das sozialstaatliche Angebot sinnvoll ergänzen, jedoch keinesfalls ersetzen, denn andernfalls würde der Verband die neoliberale Gesellschaftspolitik indirekt unterstützen. Dann würde sich der Staat seiner sozialpolitischen Aufgaben schlussendlich doch Schritt für Schritt erfolgreich entledigen.

Insgesamt scheinen die künftigen Regierungsparteien die Menschen in diesem Land aus dem Auge zu verlieren. Humanistische Grundwerte wie Solidarität und Selbstbestimmtheit sind in einer am Profit ausgerichteten Gesellschaft nicht mehr lebbar. Sicher sind Unionsparteien und FDP nicht die einzigen, die so wenig soziale Forderungen in den vergangenen Jahren aufgestellt haben. Nicht umsonst ist die SPD mit dem historisch schlechtesten Wahlergebnis für ihre neoliberalen Ausflüge abgestraft worden. Aber die Absichten des bürgerlichkonservativen Lagers gehen weit über das hinaus, was in den vergangenen Jahren an sozialstaatlichem Rückbau und Privatisierung stattgefunden hat. Der Humanistische Verband kann hier entscheidend dazu beitragen, dass die Würde und Achtung des Einzelnen wieder in das Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens rückt. Das Individuum muss Mensch bleiben können und darf nicht zu einer willkürlich verschiebbaren, wirtschaftspolitischen Einheit verkommen.

Gewiss bieten die Prozesse der Globalisierung und Liberalisierung auch besondere Entwicklungschancen. Doch diese Prozesse müssen kritisch und reflektiert begleitet werden, denn sie dürfen den friedlichen Zusammenhalt einer solidarischen Gesellschaft entsprechend dem humanistischen Selbstverständnis nicht aus den Augen verlieren. In dem Ausfüllen dieser Wächterfunktion liegt die große Herausforderung des Humanistischen Verbandes in den kommenden Jahren.


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Quelle:
diesseits 4. Quartal, Nr. 89 4/2009, S. 25-27
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2009