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KULTUR/045: Pinselheinrich und der Schusterjunge (diesseits)


diesseits 4. Quartal, Nr. 81/2007 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Pinselheinrich und der Schusterjunge

Von Ralf Bachmann


An Heinrich Zille, den "Pinselheinrich", erinnert zu werden, dazu gehört in Berlin nicht viel. Zille ist Berlin, "Berlins Bester", wie sein Zeit- und Sinnesgenosse Kurt Tucholsky schrieb: "Du wahst ein jroßa Meista. Du hast jesacht, wies is." Ich begegne ihm am liebsten im Köllnischen Park. Hinter dem Märkischen Museum, in dem 1928 an Zilles 70. Geburtstag die Ausstellung seines Lebenswerkes zum Wallfahrtsziel der Berliner wurde, und dem Zwinger der Wappenbären wird er dort auch zu seinem 150. im Schatten der alten Bäume stehen und "kritzeln". Der Bildhauer Heinrich Drake (1903-1994) hatte eine geniale Idee, als er da gleich zwei unsterblichen Berlinern das sprichwörtliche Denkmal setzte: Heinrich Zille und dem Schusterjungen.


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Zille steht auf dem flachen Sockel, wie man ihn von ungezählten Selbstbildnissen kennt, ganz in die Arbeit vertieft, den Malerhut in die Stirn gezogen, die Brille auf der Nasenspitze, einen Zigarrenstummel im Mundwinkel, den Skizzenblock in der linken, den Griffel in der rechten Hand, konzentriert ein Sujet fixierend. Indem ihm Drake den Schusterjungen zugesellt, dem man auch auf einer der von Zille gezeichneten Hinterhofszenen mitten unter den anderen Zillegören begegnen kann, gestaltet er die Einheit des Malers mit seinem "Milljöh", die enge Vertrautheit der von ihm zum Kunstobjekt gemachten Berliner "Unterschicht" mit "ihrem" Zeichner, Karikaturisten und Fotografen. "Wat jibt's 'n hier ze maln?"

Denn der Schusterjunge hält keineswegs respektvollen Abstand. Er drängt sich, beide Hände in den Taschen und eine flotte Melone auf dem Kopf, dicht an den Meister heran und blickt ihm ungeniert über die Schulter ins Skizzenheft. Das Gesicht spricht, es ist kess und staunend zugleich: "Wat jibt's 'n hier ze maln?" vielleicht und "Eene Handvoll Krakel, schon weeß mer, was er meent!" Der Junge von der Straße ahnt und empfindet, was Zilles Malerfreundin Käthe Kollwitz logisch in Worte fasst: "Er ist restlos Künstler. Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter - und es sind Meisterwerke." Die schuf er mit bewundernswertem Fleiß. Nicht weniger als 10 bis 15 000 Porträtskizzen und Zeichnungen aus seiner Hand sind erhalten geblieben.

Und doch ist Zille nach den Worten Otto Nagels "wohl der volkstümlichste, aber vielleicht auch der missverstandenste deutsche Künstler". Zuerst musste sich der aus ärmlichen Verhältnissen stammende gelernte Lithograf vom Stallgeruch des bloßen Handwerkers befreien. Immerhin war er schon 66, als er auf energische Fürsprache des Präsidenten Max Liebermann Ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und zum Professor ernannt wurde. Noch gravierender waren die permanenten Versuche, die sozialkritische Darstellung des "Berlins von unten" in seinen Arbeiten als reinen Ulk abzutun. In der Satirezeitschrift "Simplicissimus" erschien eine (von einem Freund gezeichnete und gar nicht gegen ihn gerichtete) Karikatur, in der ein Reichtumsprotz tönt: "Nehm se sich noch ne frische Habana, Meister Zille. Sie ham uns mit Ihren Nutten un armen Leuten imma so vill Freude jemacht!" Zille bekannte: "Da schämte ich mich." Ein andermal sagte er: "Wer über meine Witze lacht, versteht sie nicht." Selbstkritisch fügte er hinzu: "Denn hab ick det nich besser jekonnt."


Die Tränen hinter dem Lachen

Manche seiner Volksmund gewordenen bissigen Texte, wie den von der Wohnung, mit der man einen Menschen erschlagen kann wie mit einer Axt, verdanken wir diesem Gefühl. Ein Verlag verlangte Zeichnungen des inzwischen populären und gefragten Künstlers, aber "keine Gebrechen, keine schwangeren Frauen, keine Kranken, kein Elend". "Dann kann ich Ihnen Berlin nicht zeichnen", antwortete er. "Es tut weh, wenn man den Ernst als Witz verkaufen muss", klagte Zille einmal.

Max Liebermann zählte zu denen, die ihn verstanden. Er packte das in die klugen Sätze: "Tausende und aber Tausende werden achtlos und, wenn sie darauf achteten, sogar mit Abscheu an den Szenen, die Sie schildern, vorübergehen ... Sie dagegen werden von ihnen tief bewegt. Das große Mitleid regt sich in Ihnen, aber Sie beeilen sich, darüber zu lachen, um nicht gezwungen zu sein, darüber zu weinen. Wir spüren die Tränen hinter Ihrem Lachen." Hinter scheinbar sachlich-ruhigem Registrieren von Eindrücken "fühlen wir den warmen Pulsschlag Ihres Herzens. Ihr Mitleid mit den Armen und Elenden, mit den Verkommenen und Deklassierten."

Wer den wahren Zille erleben will, dem sei ein Besuch im seit April nach gründlicher Erneuerung wiedereröffneten Zille-Museum im Nikolaiviertel empfohlen. Dort läuft auch eine sehenswerte Arbeit der bekannten Berliner Filmemacherin Irmgart von zur Mühlen, die nicht nur ein lückenloses Bild von Zilles Leben und Werk bietet, sondern gleichzeitig seine bisher kaum gewürdigten fotografischen Arbeiten über das Leben und die Umwelt der Ärmsten durch geschickte Kombination mit dokumentarischem Filmmaterial "zum Laufen" bringt.

Das Museum gehört der privaten Heinrich-Zille-Gesellschaft. Ein staatliches oder städtisches für den 80. Ehrenbürger Berlins, den wohl berlinischsten unter den zeitgenössischen Bildenden Künstlern, existiert nicht. Dabei hielt schon Tucholsky der Stadt vor, "nichts, aber auch gar nicht das leiseste zu tun", um Zilles Bildern vom "großen Stadttheater" eine Heimstatt zu geben. Vorbehalte gegen Zilles Kunst und Persönlichkeit sind nie ganz verschwunden. Als er eigentlich ganz gegen seine eigenen Ambitionen zu akademischen Ehren gekommen war, schrieb - Zille zitierte es genüsslich - das völkische Blatt "Fridericus": "Der Berliner Abort- und Schwangerschaftszeichner Heinrich Zille ist zum Mitglied der Akademie der Künste gewählt und als solcher vom Minister bestätigt worden. Verhülle, o Muse, dein Haupt."


"Vata jeht stehl'n - icke soll beten"

So lange sich Zilles Kunst als "kleinbürgerlicher Firlefanz" wie Zillebällen, wo sich die Damen und Herren des Establishments als Luden und Huren, Bettler und Knastbrüder, Krüppel und Marktweiber aus dem "Milljöh" verkleideten, aber auch in Familienblättern und Illustrierten gut vermarkten ließ, versuchte man, ihn dafür gleichzeitig zu entschärfen und nutzbar zu machen. Zille durchschaute den Rummel bald, obwohl man ihm einredete, die Maskenbälle mit den Zillefiguren seien Wohltätigkeitsveranstaltungen für die Armen. "Das sollte ein Volksfest sein. Ein richtiges Volksfest!", klagte er. "Sie aber machten eine Champagnerpropaganda daraus." Selbst die Lobesworte des Oberbürgermeisters zu seinem 70. Geburtstag, er habe mit seinem humorvollen Wesen das Volk Berlins in die Kunst eingeführt, nahm Zille misstrauisch auf: "Sie wollen in mir nur das Volk streicheln..."

Politisch war Zille stets ein Linker. Ohne sich an eine Partei zu binden, unterstützte er die "Rote Hilfe" und die Kämpfe der Arbeiter um den Achtstundentag, nannte er sich Kommunist. Er wollte kein politischer Akteur sein, aber er empfand sich als ein Teil der Klasse, die er malte. Als er gemeinsam mit Otto Nagel, wie er ein Maler des Berliner Proletariats, das engagierte Buch "An alle" herausgab, in dem "zum ersten Mal der unverfälschte, unfrisierte Zille zu Worte" kommt, meinte er dazu: "Viele werden enttäuscht sein, sie werden sagen: Also so einer ist das! Na, - wenn sie es erst jetzt merken!" Wie in seinen Bildern die soziale Wahrheit, so war in seinem Leben schonungslose Offenheit kein Beiwerk, sondern selbstverständlich. Heuchelei war ihm fremd. In einer Skizze weint ein Mädchen bitterlich. "Vata jeht stehl'n - icke soll beten", lautet der Text.

Ja, und noch etwas prägte sein Leben: ein aus dem tiefsten Inneren kommender Humanismus, immerwährende praktische Hilfsbereitschaft. An Autogrammjäger schrieb er: "Wenn Sie an die Frau Soundso fünf Mark schicken, dann will ich Ihnen gern meinen Namenszug zukommen lassen." Und er kommentierte für seine Leser: "Ich habe doch immer 'ne ganze Masse armer Witwen und andre arme Luders." Das war es, was die von ihm so geliebte Diseuse Claire Waldoff in einem zum Schlager gewordenen Lied Willi Kollos vom "guten Vater Zille" singen ließ. Er war, mag das Wort auch neuerdings zu Unrecht in Verruf geraten sein, nehmt alles nur in allem, einfach ein guter, verehrenswürdiger Mensch.


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Quelle:
diesseits 4. Quartal, Nr. 81/2007, S. 31-32
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
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E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
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Jahresabonnement: 12,- Euro (inklusive Porto und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2007