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KULTUR/050: Joachim Ringelnatz und die Stadt an der Wurze (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 88/2009 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Das Wunderland beim Strumpfenband
Joachim Ringelnatz und die Stadt an der Wurze

Von Ralf Bachmann


Mit ihren großen Söhnen und Töchtern haben einige Geburtsorte Probleme gehabt, die uns Heutigen unbegreiflich erscheinen. Vor allem bei Künstlern war es entweder die den gutbürgerlichen Rahmen sprengende Persönlichkeit oder auch die politische Sprengkraft des Werkes, die den Stadtvätern Kopfzerbrechen bereitete.


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Düsseldorf brauchte fast zwei Jahrhunderte, bis es langsam anfing, auf Heinrich Heine auch ein wenig stolz zu sein, in Lübeck tat man sich lange genug schwer mit Thomas Mann, Bert Brecht war längst weltberühmt und tot, als sich Augsburg endlich entschloss, ihm die Ehren zu erweisen, die ihm gebührten. Anna Seghers ist es mit Mainz lange Zeit nicht viel besser ergangen.

Natürlich gibt es bei am Ende Unumstrittenen, von Gesellschaft, Kirche und Adel (manchmal zähneknirschend) Akzeptierten auch umgekehrte Fälle. In "Kleinparis" erweckte man gern den Eindruck, Johann Sebastian Bach und Johann Wolfgang Goethe seien ebenso mit Pleißewasser getauft wie der "echte" Leipziger Richard Wagner, obwohl beide nur dort gastiert hatten, der eine als Thomaskantor, der andere als leichtlebiger Student. Im aktuellen Katalog des Wiener Zentralfriedhofs wird der in Bonn geborene, aber in Wien beerdigte Ludwig van Beethoven sogar unter "unsterbliche Österreicher" registriert - eine doppelte Unwahrheit.


Mehr Spott als Lohn für die treue Heimatstadt

Mit dem Schriftsteller, Kabarettisten und Maler Joachim Ringelnatz, der 2008 seinen 125. Geburtstag hatte und seit dessen Todestag nun 75 Jahre vergangen sind, ist die Sache komplizierter. Sein Lebenslauf und sein Ruhm gleichen einer Achterbahn. Mal war er sehr, mal überhaupt nicht gefragt, und als er am 17. November 1934 an einer zu spät behandelten Lungentuberkulose starb, folgten in Berlin gerade mal neun Trauernde seinem Sarge. Die Nazis hatten dem links denkenden Satiriker Auftrittsverbot erteilt, seine Bücher verbrannt und seine Bilder als entartete Kunst verfemt. Er war so verarmt, dass Freunde zu Spenden für sein Überleben aufriefen. Vergebens. Selbst an den wichtigsten Orten seines Wirkens wie München, Hamburg/Cuxhaven, Leipzig und Berlin zuckte man nur verlegen die Achseln, wenn sein Name genannt wurde. Mittlerweile ist das ganz anders. Ringelnatz lebt in seinen Werken weiter. Vor allem seine humorvollen Lebensweisheiten in Gedichtform sind gefragter denn je. Die Folge: Alle Ringelnatzstädte und selbst solche, die es nur gern wären, überbieten einander, ihn zu ehren.

Einzig eine jedoch kann das reinen Gewissens tun, nämlich des Künstlers Geburtsstadt Wurzen, die ihm immer die Treue wahrte, wenngleich er hier gerade mal die ersten vier Lebensjahre zubrachte und sie mehr Spott als Lohn für ihre Anhänglichkeit erfuhr. Der Düsseldorfer "Mittag" vermerkte 1925 in einer Ringelnatz-Würdigung: "Geboren wurde er aber in Wurzen, der Stadt, die damit zum dritten Male für die Weltgeschichte etwas bedeutete. Denn einmal erwähnt sie Goethe im Urfaust. Dann hat Napoleon vor der Leipziger Schlacht dort geschlafen. Und nun hat sie uns Ringelnatz geschenkt." Lassen wir die Großstadtarroganz gegenüber einer immerhin Tausendjährigen beiseite. Die Fakten stimmen. Im Urfaust gibt es in der Szene in Auerbachs Keller den Satz: "Bey Wurzen ists fatal, da muß man so lang auf die Fähre manchmal warthen." Auch wenn er das später gestrichen hat, der Satz zeigt, dass Goethe Wurzen und seine Probleme kannte. Die Fähre benötigte man über die Mulde, obwohl Ringelnatz schrieb, er sei in Wurzen an der Wurze geboren. Eine Wurze gibt es so wenig wie die Knatter, an der Kyritz liegen soll.

Wer war dieser Ringelnatz? Jeder glaubt, ihn zu kennen, aber jeder kennt einen anderen und auch den nur halb. Er war nicht nur der Dichter der unvermindert populären Lieder vom Seemann "Kuttel Daddeldu" und ungezählter philosophisch-heiterer und skurril-absurder Aphorismen in Versen. Vom armen Sauerampfer am Bahndamm, der Zug um Zug sieht, aber niemals einen Dampfer. Vom zierlichen Näschen der Braut, auf dem sich, durchs Vergrößerungsgläschen beschaut, haarige Berge zeigen, dass einem graut. Vom Verdruss beim Verfassen von Stammbuchversen: "Man fühlt sich ins Klosett gesperrt, obwohl man gar nicht muss."


"Klimme wacker, alter Knacker!"

Er bedichtete Dinge gänzlich unpoetischer Art: die Borsten seiner Bürste, die Bläschenerzeugung in der Badewanne, Silvester bei Kannibalen, eine Pellkartoffel. Und er tat es mit wie beiläufig aus dem Ärmel geschüttelten Reimen: "Den Unterschied bei Mann und Frau sieht man durchs Schlüsselloch genau." Auch bei der genialen Beschreibung des Klimmzugs in den "Turngedichten": "Klimme wacker, alter Knacker! Klimme klimb zum Olymp! Höher hinauf! Glückauf! Kragen total durchweicht. Äh-äh-äh endlich erreicht. Das Unbeschreibliche zieht uns hinan, der ewig-weibliche Turnvater Jahn."

Sein Motto war: "Überall ist Wunderland, überall ist Leben." Und er entdeckte dieses Wunderland auch "bei meiner Tante im Strumpfenband - wie irgendwo daneben." Das "Überall ist Wunderland" wird gern zitiert und als Veranstaltungstitel benutzt. Der Leipziger Bürgerverein "Waldstraßenviertel" - der Gegend um die Funkenburgstraße, wo Ringelnatz aufgewachsen ist - wählte die Zeile Ende Juni als Überschrift für ein großes Volksfest und verknüpfte sie mit einem anderen Wort von ihm: "Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt." Seine eigene Beschreibung des "Wunderlandes" finde ich viel treffender für die Doppelbödigkeit Ringelnatzschen Witzes - aber man fragte sich wohl: Wer benutzt heute noch "Strumpfenbänder"? Und dieses "irgendwo daneben". Wir wissen doch, was er meint, der Schlimme! Ist es nicht gar zu unkonkret für unsere freisinnige, mathematisch geprägte und biometrisch vermessene Zeit?


Das Banale wird zum Wunder

Literaturwissenschaftler vergleichen den Wurzener, der bürgerlich Hans Bötticher hieß, gern mit Christian Morgenstern. Er steht auch in der Verwandtschaft seiner Zeitgenossen Erich Kästner und Kurt Tucholsky, die ihn in hohen Tönen priesen. Das Banalste wird durch ihn zum Wunder, sagte Kästner. Aber das ist nur die eine Seite seiner Kunst. Er ging auf dem schmalen Grat zwischen Tradition und Avantgarde eigene Wege, die Walter Pape, Ringelnatz-Experte und -Herausgeber, treffend "die paradoxe Rettung traditioneller Werte... durch ihre parodistische Verkehrung" nennt. Wen kann es überraschen, dass ein Meister solcher Dialektik den Nazis "entartet" vorkam und sie ihn hassten und verpönten.

Wurzen blieb ihm ergeben. Obwohl er nach dem einzigen späteren Kurzbesuch als Kommentar nur ein "Ach du liebe Zeit" für das Städtchen fand, war er glücklich darüber. An den damaligen Museumsleiter Kurt Bergt, der sich die Ringelnatzpflege zur Lebensaufgabe gemacht hatte, schrieb er 1932: "Ich freue mich sehr zu hören, dass man in Wurzen treu meiner gedenkt."

Sofort nach Kriegsende erhielt eine Straße seinen Namen. Am 17. November 1945 wurde am Haus Crostigall 14, in dem er zur Welt kam, eine Gedenktafel mit dem Ringelnatz-Vers "Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern. Meine Liebe wird mich überdauern..." enthüllt. Der Holzschnitzer hat "dich überdauern" daraus gemacht - Lächeln gehört zu Ringelnatz. 1983, zum 100. Geburtstag, erhielt der Marktplatz einen bemerkenswerten Brunnen, den ein Seepferdchen krönt. Auf ihm hockt ein Klabautermann, der schon an seiner gewaltigen Nase unschwer als Ringelnatz zu erkennen ist. Die ansehnliche Schöpfung stieß anfangs auf Unverständnis. Wer weiß auch, dass die Seeleute einst das Seepferdchen Ringelnass nannten und meinten, es bringe Glück.


Ringelnatz-Liebhaber:
progressive Traditionalisten mit viel Toleranz

Angelika Wilhelm, Leiterin des Wurzener Museums und des Ringelnatzhauses, erzählte mir bei einem Besuch in Wurzen 1999 stolz, die größte Ringelnatz-Sammlung in öffentlichem Besitz ziehe aus seinem Geburtshaus nun in ihr renoviertes Museum um. Aber bis heute ist offen, welche Perspektive das Ringelnatzhaus selbst haben soll. Es dient derzeit der Stadtverwaltung als Familienberatungsstelle. "Der schöne Barockbau könnte Sitz einer Ringelnatzstiftung werden, mit Büro, Bibliothek, Arbeitsräumen für Wissenschaftler und Studenten, vielleicht auch Gaststätte und Gästezimmern", schlägt Angelika Wilhelm vor, die zugleich Vorsitzende des 1991 gegründeten Joachim-Ringelnatz-Vereins Wurzen wurde. Für die Verwirklichung eines solchen Projekts bedürfte es neben nicht unerheblichen finanziellen Mitteln wohl einer gemeinsamen Initiative aller Interessierten von den zuständigen Regierungsstellen - schließlich ist Ringelnatz ist ein Künstler von gesamtdeutschem Rang - über Land und Stadt bis zu denen, in deren Besitz sich der Nachlass befindet.

Das Museum hatte gegenüber "Muschelkalk", so nannte Ringelnatz die an seinem Werk maßgeblich beteiligte Lebensgefährtin Leonarda, Interesse daran bekundet. Ihr war Wurzen zu unbekannt und abgelegen. Sie dachte an Hamburg oder Cuxhaven, ihr Sohn an München. Doch wenn die Ringelnatz-Liebhaber nach Wurzen kommen, sind sie wirklich bei ihm und zu Hause. Um die geht es Angelika Wilhelm, sie sind "ein besonderer Menschenschlag, progressive Traditionalisten mit viel Toleranz und geistiger Überlegenheit".

Im Ringelnatz-Jahr 2008 ist viel für die Pflege und Popularisierung seines Werkes geschehen, von Ausstellungen seines bildnerischen Werkes, soweit es erhalten geblieben ist, über Sonderschauen in den Ringelnatzmuseen in Cuxhaven und Wurzen bis zur Herausgabe von Sonderbriefmarken mit seinem Porträt. Aber die originellste Ehrung fiel, wen wundert es, der Stadt Wurzen ein. Sie erfüllte ihm einen Wunsch aus dem kleinen Gedicht "Ehrgeiz":

"Mein Ideal wäre,
Dass man nach meinem Tode (grano salis)
Ein Gässchen nach mir benennt, ein ganz schmales
Und krummes Gässchen mit niedrigen Türchen,
Mit steilen Treppchen und feilen Hürchen,
Mit Schatten und schiefen Fensterluken.
Dort würde ich spuken."


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 88 3/2009, S. 29-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2009