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STANDPUNKT/176: Neuer Atheismus? Neuer Humanismus? (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 83/2008 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Neuer Atheismus? Neuer Humanismus?


Unter dem Motto "Neuer Atheismus und moderner Humanismus" lud die Humanistische Akademie Berlin in Kooperation mit der Giordano Bruno Stiftung zur Frühjahrstagung am 25. und 26. April ins Haus Deutscher Stiftungen ein.


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Das Interesse vorab war groß, die anschließende Einschätzung geteilt. Nicht zu übersehen war die unterschiedliche Herangehensweise an die Thematik "Neuer Atheismus". Die Referenten, mehrheitlich aus der Giordano Bruno Stiftung und dem Humanistischen Pressedienst stammend, maßen dem Thema eindeutig mehr Bedeutung zu, als dies die Vertreter des Humanistischen Verbandes taten. Trotzdem kann die Tagung als Symbol dafür gelten, dass man unterschiedliche Wege beschreiten, und trotzdem in der Öffentlichkeit als gemeinsame verlässliche Interessenvertretung für Konfessionslose auftreten kann.

Diesseits bat den Akademiepräsidenten Prof. Dr. Frieder Otto Wolf um eine Einschätzung:

"Wir hatten Gelegenheit an diesem Tagungswochenende, Selbstdarstellungen aus dem Kreis der Neuen Atheisten in Deutschland zu hören. Ein Blick auf die Rednerliste zeigt, dass Vertreter des Humanistischen Verbandes nicht darunter waren. Und damit war es leider keine wirkliche Debatte. Die aber wäre dringend nötig und ich denke, sie wäre auch produktiv. Nicht so sehr, weil schon positive Ergebnisse einzufahren wären. So sind eher Defizite deutlich geworden. Sowohl die begrifflichen und theoretischen Defizite einer naiv naturwissenschaftlich orientierten Traditionslinie, die aber wirksame Öffentlichkeitsarbeit zu machen in der Lage ist, indem sie gängige Denkmuster bedient, als auch die Vermittlungsdefizite eines gesellschafts- und kulturwissenschaftlich aufgeklärten Humanismus.

Die Diskussion muss über die triviale Feststellung hinaus, dass seit den Tagen des alten Monismus die Naturwissenschaften sehr viel weiter gekommen sind, geführt werden. Wir müssen uns fragen, was für kritische Humanisten heute der Gesichtspunkt des Naturalismus bedeuten kann, der nicht auf blinde Geschichtsvergessenheit hinausläuft und was für uns eine sinnvolle Religionskritik sein kann, die weder schlimme Fakten und Verhältnisse leugnet, noch aufgeklärte Religionsvertreter umstandslos auf die reaktionären Ausprägungen ihrer jeweiligen Religion reduziert.

Die Tagung hat uns noch einmal deutlich die unterschiedlichen Strategien gezeigt, die es gilt miteinander besser ins Gespräch zu bringen: die von der Giordano Bruno Stiftung vertretene Strategie von PR-wirksamen Aktionen ohne längerfristige Perspektive und die vom Humanistischen Verband favorisierte Linie eines langfristig angelegten, mit konkreten sozialen und kulturellen Projekten verbundenen Organisationsaufbaus."

Aus der Vielzahl der Referate stellen wir hier stark gekürzt exemplarisch den Beitrag von Dr. Michael Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung, vor, der sich am intensivsten mit den zur Diskussion stehenden Begrifflichkeiten auseinander setzte.


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Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus?

Von Michael Schmidt-Salomon


Der so genannte Neue Atheismus ist seit etwa einem Jahr in aller Munde. Magazine wie Spiegel und Stern widmeten dem Thema Titelgeschichten und in Rundfunk und Fernsehen wurde zu besten Sendezeiten über den vermeintlichen "Kreuzzug der neuen Atheisten" debattiert. Ausgelöst wurde diese beachtliche Medienresonanz vor allem durch die Buchveröffentlichungen der angelsächsischen Religionskritiker Richard Dawkins, Sam Harris, Daniel Dennett und Christopher Hitchens.

Atheisten, das sind für viele Zeitgenossen noch immer ziemlich fremdartige, tendenziell gefährliche Wesen - das Überbleibsel einer erfolgreichen religiösen Begriffspolitik über viele Jahrhunderte hinweg. Allerdings: Heute lässt sich mit solchen als geheimnisvoll gehandelten Wesen im Mediengeschäft ganz gut Quote machen. Deshalb lag es angesichts des Erfolgs des "Gotteswahns" auf der Hand, ein paar ausgesuchte Atheisten durch die Manegen der Rundfunk- und Fernsehstationen zu treiben. Wie die großen Raubkatzen im Zirkus, so riefen auch sie mitunter ein schauriges Raunen im Publikum hervor. Aber dieses Phänomen legte sich recht bald. Der Sensationswert des Atheismus verglühte im Scheinwerferlicht und man stellte fest, dass "diese Atheisten" letztlich auch nur stinknormale Leute sind.

Natürlich ist es zunächst einmal ein schöner Erfolg, dass die säkularen Organisationen durch die Debatte um den neuen Atheismus bekannter geworden sind. Auf diesen Lorbeeren ausruhen dürfen wir uns jedoch nicht. Zwar wird die Frage nach Gott auch weiterhin Menschen bewegen, aber es sollte uns klar sein, dass es für eine säkulare Position längst nicht mehr ausreichen kann, sich allein auf Religionskritik zu versteifen. Letztlich geht es doch auch bei all den Debatten, die wir führen, gar nicht wirklich um diese Projektionsfigur "Gott", sondern stets um den realen Menschen, der unter bestimmten Umständen solche Projektionen nötig zu haben scheint. Auch dies ist ein Grund dafür, warum wir vom "Neuen Atheismus" zum "Neuen Humanismus" voranschreiten sollten.


Neuer Atheismus - was ist das?

Beginnen wir mit einer Annäherung an den Begriff "neuer Atheismus": Es war wohl Gary Wolf, der Ende 2006 die Initialzündung für die Erfolgsgeschichte des Begriffs gab. In seinem Artikel "The Church of the Non-Believers", erschienen in der November-Ausgabe 2006 des Wired-Magazine, brachte er das religionskritische Anliegen von Dawkins, Harris und Dennett folgendermaßen auf den Punkt: "Dies ist die Herausforderung der Neuen Atheisten: Wir sind dazu aufgerufen, wir lockeren Agnostiker, wir hingebungslosen Ungläubigen, wir unbestimmten Deisten, denen es peinlich wäre, antike Absurditäten wie die Jungfrauengeburt zu verteidigen (...), man fordert uns Unentschlossene auf, diesen lähmenden Fluch zu exorzieren: Den Fluch des Glaubens. Die neuen Atheisten werden uns nicht schon allein deshalb vom Haken lassen, weil wir keine dogmatischen Gläubigen sind. Sie verurteilen nicht nur den Gottesglauben, sondern auch den Respekt für den Gottesglauben. Religion ist nicht nur falsch, sondern ein Übel. Nun, da dieser Kampf aufgenommen wurde, gibt es keine Entschuldigung mehr, sich vor einer Auseinandersetzung zu drücken."

Meines Erachtens trifft Wolfs Umschreibung sehr gut ein wesentliches Charakteristikum des neuen Atheismus. In der Tat besteht der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Atheismus darin, dass der letztere eben nicht nur den Gottesglauben an sich ablehnt, sondern auch den Respekt vor dem Gottesglauben attackiert.

Dazu zunächst zwei einschränkende bzw. präzisierende Anmerkungen:

1. Wenn hier von Gottesglauben gesprochen wird, dann bezieht sich das ausschließlich auf den Glauben an den personalen Gott. Der unpersönliche Gott der Mystiker, der Gott Meister Eckarts, Brunos, Spinozas oder auch der rein metaphorische Gott Albert Einsteins ist niemals Gegenstand der Angriffe der neuen Atheisten gewesen.

2. Die neuen Atheisten attackieren in erster Linie Religionsauffassungen, die sich selbst noch Ernst nehmen, nicht jene Formen von "Religion light", die man hierzulande vorwiegend antrifft. Wären alle Religionsgemeinschaften weltweit auf dem Stand der EKD, bräuchte man wohl keinen neuen Atheismus. Allerdings ist ganz offensichtlich das Gegenteil der Fall - und auch hier in Deutschland mehren sich die Zeichen für einen religiösen Umbruch. "Religion light" scheint ein Auslaufmodell zu sein, während die fundamentalistischen Strömungen immer stärker zulegen. Je früher wir dies begreifen und angemessen darauf reagieren, umso besser.


Der neue Atheismus spricht Klartext

Doch kommen wir zurück auf die Unterscheidung von altem und neuem Atheismus: Da es bekanntlich auch schon in der Vergangenheit Religionskritiker gab, die scharf formulierten und den etablierten Religionen in keiner Weise Respekt entgegenbrachten (Beispiel: Nietzsche), ist die Begriffsbelegung "alt/neu" historisch nicht unproblematisch. Wenn vom alten Atheismus gesprochen wird, so kann damit eigentlich nur der in Wahrheitsfragen eher defensive, aus taktischen Gründen zurückhaltend agierende Atheismus der letzten Jahrzehnte gemeint sein. Der Unterschied zwischen altem und neuem Atheismus wäre demnach der Unterschied zwischen einem eher nüchtern-abgeklärten Atheismus und einem eher kämpferisch-aufgeklärten.

Die Besonderheit des neuen Atheismus besteht in der Tat darin, dass er Klartext spricht - auch da, wo es so manchem nicht angebracht erscheint. Taktisches Lavieren ist jedenfalls nicht Sache des neuen Atheismus. Er ist kompromisslos aufklärerisch bis an die Schmerzgrenze. Aufklärung ist vor allem deshalb ein Ärgernis, weil sie Gefühle verletzt. Und womit verteidigt man sich in diesem Fall am besten? Nun, mit dem Argument, dass doch jede Position, so merkwürdig sie bei genauerer Betrachtung auch erscheinen mag, irgendwie "Respekt" verdient. Doch gerade gegen dieses "Dogma des Respekts" stellt der neue Atheismus seine Geschütze auf. Dies ist der eigentliche Tabubruch.

Das Wort Respekt bezeichnet eine Form der Achtung und Ehrerbietung gegenüber einer anderen Person, ihren Handlungen oder Überzeugungen. Da die neuen Atheisten Humanisten sind, die für die Universalität der Menschenrechte streiten, haben sie natürlich keinerlei Schwierigkeiten, auch sehr religiöse Menschen als Menschen zu respektieren. Ihrer Meinung nach haben aber viele menschliche Handlungen und Überzeugungen keinen Respekt verdient. Dies gilt insbesondere für religiöse oder ideologische Weltanschauungen, die sich einer kritischen Überprüfung entziehen. Wer solchen Ideensystemen mit Respekt, d.h. mit Rücksichtsnahme oder gar Ehrerbietung begegnet, der verrät die Ideale der Aufklärung.

Ist aber fehlender Respekt gegenüber bestimmten Glaubensüberzeugungen oder -handlungen gleichbedeutend mit fehlender Toleranz ihnen gegenüber? Genau dies wird den neuen Atheisten häufig vorgeworfen, auch von manchen Konfessionslosen, was sich hierzulande nicht zuletzt in der Kontroverse um das "kleine Ferkel"[*] zeigte. Das wirft die Frage auf: Sind die alten Atheisten wirklich toleranter als die neuen Atheisten?

Die Antwort darauf lautet aus meiner Sicht eindeutig: Nein! Die alten Atheisten sind nicht toleranter als die neuen, sie sind nur ein wenig ignoranter!


Toleranz ja, Ignoranz nein

Um diese bewusst pointierte Behauptung zu belegen, ist es nötig, die Begriffe zu klären, die im Toleranz-Diskurs leider allzu häufig durcheinander geraten:

Fangen wir an mit dem Begriff "Toleranz": Toleranz ist eine Last. Das sagt schon die etymologische Herkunft des Wortes, das vom lateinischen tolus (="Last") abgeleitet ist und das man mit "ertragen", "aushalten" oder "erdulden" übersetzen kann. Toleranz meint die Fähigkeit, störende bzw. verstörende Formen des Andersseins oder Andershandelns erdulden zu können. Wer tolerant ist, der nimmt es hin, dass andere Menschen in unangenehmer Weise anders denken, handeln, empfinden. Zweifellos ist das politische Toleranzgebot, das nicht zuletzt aus den bitteren Erfahrungen der zahllosen Glaubenskriege geboren wurde, eine der hervorragendsten Errungenschaften der Moderne, die es zu verteidigen gilt, was jedoch keineswegs bedeutet, dass man einer grenzenlosen Toleranz (übrigens ein Widerspruch in sich!) das Wort redet.

Leider wird der Begriff der Toleranz sehr häufig verwechselt mit dem der Akzeptanz, obwohl beide Begriffe bei genauerer Betrachtung etwas sehr Unterschiedliches meinen. Akzeptanz leitet sich vom lateinischen "accipere" ab, das "annehmen", "übernehmen", "gutheißen" bedeutet. Was man akzeptiert, das duldet oder toleriert man nicht nur, man ist mit ihm einverstanden - was allerdings nicht unbedingt heißen muss, dass man das, was man akzeptiert, für sich selbst in seinem eigenen Leben anwenden möchte.

Tolerieren muss ich nur, was ich nicht akzeptiere, was ich nicht respektiere, was mir vielleicht sogar im höchsten Maße lächerlich vorkommt. Anders gewendet: Wer alles respektiert, alles akzeptiert, der kann gar nicht tolerant sein, da er gar keine Lasten zu ertragen, zu erdulden hätte. Doch wie könnte ein Mensch, der bestimmte Überzeugungen hat (beispielsweise humanistische), in die Lage versetzt werden, auch völlig gegenteilige Überzeugungen (beispielsweise rassistische) in einer Weise gutzuheißen, zu respektieren, dass er die Lasten nicht spürt, die dadurch entstehen? Nun, er muss bloß das tun, was Mitläufer aller Epochen stets getan haben, man muss einfach kontinuierlich ausblenden, was stören könnte. Das Allheilmittel, das in dieser Hinsicht seit Menschengedenken großartige Dienste leistet, ist die Ignoranz.

Der Begriff "Ignoranz" geht auf das lateinische Substantiv ignorantia (=Unwissenheit, Dummheit) zurück und bezeichnet gemeinhin die Unfähigkeit oder den Unwillen, prinzipiell bedeutsame Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen. Manch einer, der tolerant erscheint, ist in Wirklichkeit nur ignorant, bemerkt also gar nicht die Lasten, die er zu erdulden hätte oder gegen die er sich möglicherweise wehren müsste.


Religiöse Menschen, nicht aber religiöse Überzeugungen respektieren

Die Kritik des neuen Atheismus zielte niemals auf das imaginäre Wesen "Gott", sondern auf das sehr reale Phänomen der menschlichen Ignoranz, konkret: auf den weit verbreiteten Unwillen, die realen Inhalte der religiösen Glaubenssysteme und die daraus resultierenden Folgen zur Kenntnis zu nehmen. Der neue Atheismus erscheint deshalb als so ungeheuer respektlos, weil er konsequent aufklärt, d.h. den Nebel vertreibt um jene intellektuellen Absonderlichkeiten und ethischen Unzulänglichkeiten der Religionen, die ein halbwegs aufgeklärt denkender Mensch schlichtweg verdrängen muss, wenn er den religiösen Glaubenssystemen noch irgendwie respektvoll gegenübertreten will. Ein durchschnittlich aufgeklärter deutscher Katholik will deshalb auch nicht wissen, dass der Vatikan noch in der Gegenwart Tausende von Exorzisten ausbildet, er will auch nicht wissen, was beim Abendmahl nach katholischer Doktrin wirklich verspeist wird. Also heißt die Devise: Augen zu und durch! Dass der neue Atheismus derartige "Geheimnisse des Glaubens" lüftet, macht den eigentlichen Skandal aus.

Halten wir fest: Dass neue Atheisten zwar religiöse Menschen, nicht aber religiöse Überzeugungen respektieren, bedeutet nicht, dass sie solche Überzeugungen nicht erdulden, nicht tolerieren würden. Vielmehr ist das Recht auf Weltanschauungsfreiheit für neue Atheisten ein so hohes Gut, dass sie aktiv für die Rechte der Religionen streiten würden, wenn diese vom Staat unrechtmäßig eingeschränkt würden. Wir sehen: Echte Toleranz setzt keinesfalls Respekt voraus. Im Gegenteil! Das Dogma des Respekts verhindert vielmehr echte Toleranz. Denn es gründet nicht auf aufgeklärtem Sachverständnis, sondern auf purer Ignoranz und läuft auf kulturelle Gleichschaltung und gesellschaftliche Stagnation hinaus. Religiöse Dogmatiker mögen sich eine solche Kultur der Denkverbote vielleicht erträumen, aufgeklärte Humanisten sollten derartigen Entwicklungen jedoch in aller Entschiedenheit entgegen treten.


Abschied vom neuen Atheismus

Nachdem ich im ersten Teil meiner Ausführungen doch recht offensiv Werbung für den neuen Atheismus gemacht habe, mag es vielleicht seltsam erscheinen, dass ich im nächsten Schritt sogleich den Abgesang auf ihn anstimme. Allerdings bin ich in dieser Hinsicht sehr unsentimental, denn der Begriff "neuer Atheismus" war von Anfang an ein ziemlicher Etikettenschwindel. In Wahrheit handelte es sich dabei nämlich nicht bloß um einen unspezifischen, wenn auch streitbaren Atheismus. Der "neue Atheismus" war bzw. ist vielmehr die sichtbare Vorhut eines viel grundlegenderen Veränderungsprozesses. Wenn man so will, ist der neue Atheismus nur die religionskritische Spitze eines weltanschaulichen Eisberges. Und das, was sich unterhalb der medialen Oberfläche des "neuen Atheismus" befindet, ist weitaus interessanter als das, was bislang sichtbar wurde. Unter der Oberfläche zeigen sich nämlich die Konturen einer neuen Weltanschauung, die über bloße Religionskritik weit hinausgeht. Ich möchte diese Weltanschauung als "naturalistischen Humanismus" bzw. in Analogie zum "neuen Atheismus" als "neuen Humanismus" bezeichnen.

Mit dem Begriff "Humanismus" belegen wir gemeinhin all jene Ideensysteme, die 1. vom Menschen als aktivem Gestalter seiner Welt ausgehen und die 2. eine konsequente Orientierung an den Selbstbestimmungsrechten des Menschen - etwa im Sinne der Erklärung der universellen Menschenrechte - anstreben.

Der Begriff "Naturalismus" kennzeichnet demgegenüber eine wissenschaftlich-philosophische Grundhaltung, die unterstellt, dass es im Universum mit "rechten Dingen" zugeht, d.h. dass weder Götter noch Dämonen in die Naturgesetze eingreifen. Das bedeutet u.a., dass auch die so genannten "höheren kognitiven Fähigkeiten" des Menschen notwendigerweise Naturkausalitäten unterworfen sind, sie sich also nicht über diese erheben können.

Die neuen Atheisten waren und sind Naturalisten. In gewisser Weise kann man den Naturalismus als Erweiterung, aber auch als Einschränkung des Atheismus begreifen: Eine Erweiterung ist er insofern, als er nicht bloß die Existenz von Göttern abstreitet, sondern sämtliche übernatürlichen Kräfte ausschließt. Eine Einschränkung des Atheismus bedeutet der Naturalismus insofern, als er prinzipiell ja Gottesvorstellungen erlaubt, die nicht im Widerspruch zu den Naturkausalitäten stehen. Dies zeigt, wie problematisch es ist, Atheismus und Naturalismus so einfach, wie es oft getan wurde, gleichzusetzen.


Noch größere Provokation

Der neue Humanismus dürfte für viele Menschen eine noch größere Provokation darstellen als der neue Atheismus. Denn er greift nicht nur ihr Gottesbild an, sondern darüber hinaus ihr Selbstbild. Zudem ist die Anzahl derjenigen, die sich vom neuen Humanismus beleidigt fühlen könnten, größer als die Anzahl derer, die sich über die Respektlosigkeit des neuen Atheismus beklagten. Schließlich geraten hier nicht nur Gläubige ins Visier der Kritik, sondern auch all jene säkular denkenden Menschen, die es als unschicklich ansehen, den Menschen im Tierreich zu verorten.

Wie dem neuen Atheismus geht es auch dem neuen Humanismus um eine Aufhebung von Ignoranz. In seinem Fall gilt die Kritik dem Unwillen oder der Unfähigkeit vieler Menschen, die relevanten Ergebnisse der modernen Wissenschaften zur Kenntnis zu nehmen und in ihr Selbst- und Weltbild zu integrieren.

Anders als der neue Atheismus versteht sich der neue Humanismus nicht bloß als Opposition, sondern ganz bewusst als säkulare Alternative zur Religion. Er scheut sich deshalb nicht davor, sich selbst als "Weltanschauung" zu begreifen, allerdings geht er dabei nicht von unerschütterlichen Dogmen aus, sondern von Hypothesen, die jederzeit überprüft und verändert werden können. Im Unterschied zu Religionen und politisch-religiösen Ideologien gibt es für den neuen Humanismus keine heiligen Schriften und auch keine unfehlbaren Propheten, Priester oder Philosophen. Das kritisch-rationale Fundament, auf dem er gründet, macht den neuen Humanismus zu der wohl ersten Weltanschauung, die den Anspruch hat, sich selbst aufzuheben, wenn ihre grundlegenden Prämissen sich als falsch erweisen sollten.

Gewiss: Wenn der neue Humanismus eine echte Alternative zur Religion sein soll, so darf er nicht bloß Theorie bleiben, er muss praktisch werden. Das bedeutet u.a., dass soziale Institutionen geschaffen werden müssen, die vom Geist des neuen Humanismus getragen sind. Letztlich geht es jedoch um mehr, nämlich um eine evolutionäre Weiterentwicklung der Gesellschaft als Ganzes. So brauchen wir dringend eine neue, humanistische Ökonomie. Wir brauchen, um ein weiteres Feld anzudeuten, auch einen neuen, humanistischen Strafvollzug, der nicht mehr auf dem archaischen Konzept von Schuld und Sühne aufbaut. Wir brauchen nicht zuletzt auch eine neue humanistische Bildung, in der Wissen nachhaltig in den Köpfen erhalten bleibt.

All dies sind aus humanistischer Sicht notwendige Veränderungen, die, wenn sie denn überhaupt je eintreffen, sicherlich noch Generationen brauchen werden. Doch sollte man sich hiervon nicht entmutigen lassen. Immerhin können wir - und das sollte doch ein wenig Hoffnung provozieren - auf eine lange humanistisch-aufklärerische Tradition zurückblicken, die gerade in den letzten Jahrhunderten für einen erstaunlichen Fortschritt in unserer kulturellen Evolution gesorgt hat.


Die Originalfassung erscheint in Heft 23 in humanismus aktuell im Herbst 2008.

[*] Michael Schmidt-Salomon / Helge Nyncke :
Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel.
Aschaffenburg, Alibri-Verlag, 2007


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 83/Juni/08, S. 16-19
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2008