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STANDPUNKT/177: Säkularisierung - ein Beitrag zur Stärkung des Friedens (ha)


humanismus aktuell Heft 22 - Sommer 2008
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Säkularisierung - ein Beitrag zur Stärkung des Friedens

Von Peter Schulz-Hageleit


Zum Begriff "Säkularisierung"

Säkularisierung ist nach meinem Wortverständnis ein über viele Generationen sich erstreckender, m.E. unaufhaltsamer, im Ganzen aber auch unabschließbarer Vorgang der Umwandlung von materiellen wie auch ideellen Kirchengütern in außerkirchliche Verfügungen, angefangen etwa bei der zwangsweisen Verstaatlichung von Klöstern und Kirchen, wie wir das aus der Französischen Revolution und anderen Phasen des politischen Umbruchs kennen, über die allmähliche Umformung von Kirchenfesten zu Feiertagen mit neuen volkstümlichen Inhalten und die Nutzung von Kirchen für allgemeine kulturelle Zwecke, bis hin zum Einstieg von Priestern in Fernseh-Showgeschäfte, um nur einiges in diesem generellen und vielfältigen Wandel anzudeuten.

Zur Säkularisierung im Alltag gehört, dass Religionen und Kirchen dem Sog des Kapitalismus und der Werbung genauso unterliegen wie alle anderen Bereiche des Lebens. Die an nichts anderem als an Verkaufssteigerung interessierte Werbung formt und verformt alles, aber auch wirklich alles, nach ihren Zwecken, auch Gott und Jesus, die sich kirchlicherseits werbewirksam präsentieren müssen, wenn sie wahrgenommen werden wollen. Gottesdienste auf dem Berliner Hauptbahnhof, der als neuer Kapitalismus-Tempel bewundert wird: Mit derartigen Events versuchen die christlichen Kirchen, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und Mitglieder zu gewinnen.

Selbstverständlich werden Gott, Jesus, die Jungfrau Maria und alle Heiligen aber auch zu Werbeträgern für außerkirchliche Zwecke gemacht, was sie ihren Ursprüngen weiter entfremdet. Ein diesbezüglich harmloses Beispiel habe ich kürzlich bei einem Besuch in Schmalkalden entdeckt, wo Luther-Socken verkauft werden, die mit der Aufschrift versehen sind: Hier stehe ich, ich kann nicht anders ...

In einer genaueren real- und begriffsgeschichtlichen Studie müssten wir wohl zwischen der materiell-rechtlichen Verstaatlichung von Kirchenbesitz als Säkularisation und den eher mentalen und sozialen Loslösungen von kirchlichen Bindungen als Säkularisierung unterscheiden. Wichtige Daten für die Säkularisation in Deutschland sind 1803 (Reichsdeputationshauptschluss, vgl. dazu im Überblick Wehler 1987) und 1919 (Weimarer Verfassung mit einem ersten Anlauf zur Trennung von Kirche und Staat). Der Kampf um Auflösung oder Erhalt des Kirchenstaates ist ein wichtiges Thema der Geschichte Italiens im 19. Jahrhundert (Römische Frage, Lateranverträge).

Für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse ist die Differenzierung zwischen Säkularisierung und Säkularisation sekundär, zumal beide Vorgänge sich meistens wechselseitig bedingen. Mein Hauptinteresse gilt den langfristigen mentalen Veränderungen, mit denen ich einige, wenn auch nur schwache Hoffnungen verbinde. [1]

Der Begriff Säkularisierung ist seinem eigenen historiographischen Anspruch nach objektivierend, deskriptiv; er verweist sachlich auf einen historischen Veränderungsprozess, ohne zu werten. Im Gegensatz dazu enthält die Überschrift zu meinem Vortrag Säkularisierung - ein Beitrag zur Stärkung des Friedens eine eindeutige Wertung, die der lebensgeschichtlich gewachsenen, existenziell-humanistischen Überzeugung des Autors entspringt. (Das Fragezeichen hinter dem Thema im Programmheft stammt nicht von mir selbst, sondern - zufällig? - von den Organisatoren!)

Gewiss: Meine Wertung ist ihrerseits diskursiv in Frage zu stellen und mit anderen Wertungen zu konfrontieren. Das muss die Diskussion leisten.


Religion - Friedensstifter oder Kriegstreiber?

Der heutige Studientag hat sich nach dem Management von Pfarrer Rainer Beier die provozierende Frage gestellt: Ist die Religion Friedensstifter oder Kriegstreiber? Nach allem, was mir dazu als Historiker bzw. Geschichtsdidaktiker durch den Kopf geht, war und ist Religion beides, Friedensstifter und Kriegstreiber, oft nacheinander und im Wechsel, oft aber auch gleichzeitig, je nachdem, wer sich da mit welcher existenziellen Grundhaltung in die Zeitläufte einmischt.

Die Vergangenheit bietet z.B. zahlreiche Belege für das Gegeneinander von Amtskirche und einzelnen Christen dergestalt, dass die Amtskirche den Krieg predigte, während einzelne Pfarrer sich mutig dagegen stellten. Das war u.a. in der Kaiserzeit und vor dem Ersten Weltkrieg der Fall. Dazu liegen instruktive Fallbeispiele vor. [2]

In den 1980er Jahren, um ein anderes Beispiel anzutippen, waren viele Christen mit Leidenschaft und Energie an der Friedensbewegung beteiligt, und sie hatten ein wirkmächtiges, dem Alten Testament entnommenes Symbol, Schwerter zu Pflugscharen (Jesaja 2.4 und Micha 4.3), das auch mich damals stark beeindruckt hat. Das damalige Engagement der großen Amtskirchen, die in Deutschland vom Staat alimentiert werden und daher von ihm abhängig sind, muss dagegen als vorsichtig taktierend, ja als flau bezeichnet werden, was realpolitisch den Militarismus eher verstärkte als eindämmte.

Meine Antwort auf die Frage des Studientages entzieht sich also dem bewusst polarisierenden Entweder-oder und steigt damit fürs erste bei einem Trend ein, der die einst harten, ja unversöhnlichen Fronten zwischen säkularen und sakralen Lebenslehren (bzw. zwischen Vernunft und Glauben) zu überwinden sucht. Dieser Trend hat sowohl die Kirchen als auch säkulare Kräfte erfasst.

Ein bekannter Promotor auf säkularer Seite ist der Philosoph Jürgen Habermas, der in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 vor einer umstandlosen Preisgabe der Religion warnte und erklärte, dass die "nichtdefaitistische Vernunft" Abstand von der Religion halten könne, "ohne sich ihrer Perspektive zu verschließen". Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, betonte er, vollziehe sich "im Modus der Übersetzung" [3], das heißt durch Übertragung von religiösen Denk- und Sprachformen in weltlich-philosophische Aussagen.

Belege für die Öffnung der Kirchen gegenüber säkularen Lebens- und Denkformen finden sich massenhaft, sowohl im niederen Alltag als auch auf höheren Etagen der Meinungsmacher. Kardinäle suchen das Gespräch mit Meinungsführern auf der weltlichen Seite; Ratzinger in Deutschland konferierte mit Habermas, Martini in Italien suchte die Auseinandersetzung mit Umberto Eco.

Bischof Huber benennt mit Rückgriff auf wissenschaftliche Untersuchungen in einer öffentlichen Ansprache selbstkritisch das den Religionen innewohnende Gewaltpotenzial (eliminatorische Mission im Mittelalter, Raubzüge und Massaker der Kreuzzüge, Schlächtereien des Dreißigjährigen Krieges) [4], so dass ich als humanistisch-agnostischer Leser zunächst einmal verblüfft war über die ungewohnte freimütige Einschätzung der eigenen schrecklichen Traditionen.

Diese wechselseitigen Annäherungen haben ihren Sinn, ich will sie aber hier und jetzt nicht fortsetzen, jedenfalls nicht direkt, sondern versuchen, meinem Thema gerecht zu werden, das Säkularisierung als Beitrag zur Stärkung des Friedens fokussiert. Wohl wissend, dass Säkularisierung auch Schattenseiten hat, ja destruktive Entwicklungen entbinden kann, vertrete ich hier die These, dass die Loslösung von kirchlichen Denk- und Lebensformen ein kultureller, demokratischer Selbstschöpfungsprozess ist, der dem menschlich-gesellschaftlichen Fortschritt, so weit dieser überhaupt möglich ist, unabdingbar innewohnt und ihn weiter voranbringt.


Vernunft und Gewissen - ein säkulares Kräfteduo

Ein nicht absolut verlässlicher, aber doch hinreichend sicherer Leitfaden für das, was ich im Folgenden nur skizzieren kann, ist die Geschichte des Friedensnobelpreises, der 1901 erstmals verliehen wurde, und zwar an den Begründer des Roten Kreuzes Henri Dunant (1828-1910), zusammen mit Frédéric Passy (1822-1912), dem Gründer der Französischen Gesellschaft der Friedensfreunde.

Die nachfolgenden Friedensnobelpreisträger kamen aus grundverschiedenen Lebens- und Arbeitsbereichen, aus Politik und Völkerrecht, aus der Frauen- und Friedensbewegung, aus Gewerkschaft und humanitären Organisationen und selbstverständlich auch aus kirchlich-religiösen Zusammenhängen. Der vorletzte Friedensnobelpreisträger 2006, Muhammad Yunus, erhielt die Auszeichnung, wie in den Zeitungen zu lesen war, für die Förderung wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung "von unten". Er hatte eine Bank gegründet, die Kleinkredite für sozial Schwache vergibt, und damit gute Erfolge erzielt.

Der diesjährige Nobelpreisträger, Al Gore, hat sich zuerst als Herausforderer von Präsident Bush einen Namen gemacht. Doch hatte er damit keinen Erfolg, leider. Denn sein Erfolg hätte wahrscheinlich massenhaftes Leid und Elend verhindert. Die Nobel-Auszeichnung erhielt er u.a. für sein Engagement für eine Weltpolitik des konsequenten Klimaschutzes. Das Hauptbezugsfeld seiner Argumentationen ist die Ethik der amerikanischen "Gründungsväter", die sich (unbeschadet aller zeittypischen Begrenztheiten ihrer Politik) eher an der Vernunft als an der Religion orientierten. Heute ist das, so die Klage Al Gores, offenbar umgekehrt.

Die Friedensnobelpreisträger stehen hier für tausende und abertausende von Menschen, die Vergleichbares leisten, freilich in anderen Bereichen und oft "nur" in einem engeren alltäglichen Kontext.

Was die Menschen, bekannte und unbekannte, zu ihrem säkularen Friedensengagement motiviert, das müsste in Einzelfallstudien genauer untersucht werden; denn die Voraussetzungen und Beweggründe ihres Handelns sind sicherlich sehr unterschiedlich. Ein besonderes menschlich-weltliches Kräfteduo übt aber meiner Einschätzung nach in jedem Fall seinen Einfluss aus.

Ich liebe es und will ihm auch hier und jetzt meine Unterstützung zuteil werden lassen, indem ich es ausdrücklich nenne. Das Kräfteduo heißt Vernunft und Gewissen. Es hat im ersten Artikel der Erklärung der Menschenrechte von 1948 einen würdigen Platz gefunden und kann so programmatisch für eine säkulare Bewegung zitiert werden, die die gesamte Menschheit umfasst: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Vernunft und Gewissen sind der Religion vorgeordnet, sowohl historisch-chronologisch als auch anthropologisch systematisierend. Gewiss hat zum Beispiel das Christentum gerade dem Gewissen einen besonderen Akzent verliehen, u.a. mit dem Gebot der Nächsten- und Feindesliebe, aber es ist deswegen weder der Begründer noch der Garant eines lebendigen Gewissens, das dem Frieden als Quell eines kraftvollen Lebens dient und nicht dem Krieg und dem Tod.

Vernunft und Gewissen - die beiden gehören zusammen, und sie brauchen weder Gott noch die Religion, um wirksam zu werden, sondern eben Menschen mit Vernunft und Gewissen. Dem werden Gläubige widersprechen und etwa sagen: Aber das Gewissen gründet sich in Gott. Der Frieden unter den Menschen kann doch als Leitidee nur in uns wirken, wenn es etwas Höheres als den menschlichen Frieden mit allen seinen Tücken und Schwächen gibt.

Die persönliche Vergewisserung in Gott ist jedem unbenommen, auch und gerade in humanistisch-säkularer Perspektive. Sie rechtfertigt aber nicht die umstandslose Übertragung von sich selbst auf andere oder gar auf alle Menschen im Allgemeinen. Wenn der Gottesbezug als Letztbegründung missionarisch durchgesetzt werden soll und mit Machtansprüchen an den Staat verbunden wird, entbrennt ein Kampf, der nicht in Liebe und Respekt, sondern im Geist des Herrschenwollens geführt wird. Damit gehe ich zum nächsten Punkt meiner Argumentation über; ich halte ihn für besonders wichtig.


Kann der missionarische Gottesbezug Frieden stiften?

Wie Sie alle wissen, spielt in den Auseinandersetzungen über eine zukünftige europäische Verfassung der Gottesbezug eine kontroverse Rolle. Von einigen Personen und Institutionen wird er nachdrücklich eingefordert, von anderen jedoch entschieden abgelehnt. Die Ablehnung hat zur Zeit die Mehrheit, doch der Kampf ist noch nicht endgültig entschieden, und er wird so oder so weiter gehen, weil die Kirchen ohne Rückendeckung durch die höchsten Verfassungsorgane weiter an Einfluss verlieren werden, wogegen sie verständlicherweise auf allen Ebenen massiven Widerstand leisten.

In der schon erwähnten Rede in der Dresdener Frauenkirche über die Verantwortung der Kirchen für den Frieden schließt sich Bischof Huber dieser auch von der Kanzlerin offensiv vertretenen Forderung ausdrücklich an und bekräftigt gleichzeitig den von Jesus Christus selbst erteilten Missionsauftrag, der lautet (Matthäus 28, 16-20): Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie alles zu befolgen, was ich euch geboten hab. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.

Das Festhalten an diesem Missionsauftrag in Verbindung mit dem Anspruch, den Gottesbezug in der Verfassung zu vertankern [5], wie es Bischof Huber und den meisten anderen Kirchenführern vorschwebt, hat heutzutage im Unterschied zu früher weder Zwangstaufen, noch Krieg, noch Inquisition zur Konsequenz; so viel hat die Säkularisierung mit ihrer Trennung von Kirche und Staat immerhin schon erreicht. Sie stärkt aber auch nicht den Frieden, sondern schafft unausweichlich Konflikte, wenn nicht sogar Unfrieden. [6] Der in Aussicht genommene Gott kann ja nur der partikulare Gott der Christen sein, und das stößt Millionen und Abermillionen von Menschen mit einem anderen Glauben vor den Kopf [7], von den Gottlosen, zu denen ich mich selbst zähle, ganz zu schweigen. [8]

Warum ist den christlichen Kirchenführern die Verankerung Gottes in der Verfassung so wichtig? Eins ist mehr als wahrscheinlich: Gott in einem Basistext, der von Menschen demokratisch verfasst wurde und der dann das Gemeinschaftsieben reguliert, würde eine Lawine von weiteren Geldforderungen lostreten, die die bisherige Privilegierung der Kirchen weit überstiege. Das hat strukturell mit Frieden nichts, aber auch gar nichts zu tun. (Ich betone das Wort "strukturell", weil die Struktur als solche nicht ausschließt, dass einzelne Personen als Friedensstifter hervortreten, was aber den Personen und nicht der Struktur zu danken wäre.)

Der missionarische Gottesbezug ist im Kern gewalttätig, erobernd, unterdrückend. Er rechtfertigt sich selbst und schirmt sich theologisch gegen alle Einwände ab. Realhistorisch trat er als brutale Allianz von Thron und Altar in Erscheinung, die sich bis heute - wenig beachtet - u.a. in der Militärseelsorge fortsetzt. [9]

Auch der gegenwärtig von den Kirchen mit großer Geste ins Feld geführte "Dialog der Religionen" kann dieses den Religionen innewohnenden Spaltungsmaterial nicht beseitigen. Er schürt vielmehr Erwartungen und Hoffnungen, die in dem Maße enttäuscht werden müssen, wie die realen Macht- und Herrschaftsbedingungen ihren Tribut fordern. Der Dialog der Religionen, so wie er von protestantischen Kirchenführern vorgetragen wird (Huber, Steinacker) [10], ist ein Abstecken der Machtgrenzen im Stil der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden. Er erwähnt die Millionen und Abermillionen von Menschen, die mit Religionen nichts zu tun haben wollen, bezeichnenderweise überhaupt nicht (es sei denn, wie gesagt, als Objekte der Mission), weil sie kein Machtfaktor sind. Das ist symptomatisch für die öffentlich gezügelte Aggressivität, mit der Religionen ihre Machtansprüche verfechten.

Begründet wird der missionarische Gottesbezug unter anderem mit dem so genannten Böckenförde-Diktum [11], das meistens nicht mehr diskursiv erörtert, sondern ritualisiert als formelhafte Beschwörung eingebracht wird. Es besagt, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Da es in der gegenwärtigen Diskussion eine maßgebliche Rolle spielt, will ich mit einigen Worten genauer darauf eingehen.


Das "Böckenförde-Dilemma"

Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, geboren 1930, behauptete in seinen Schriften, dass der moderne Staat sich in einem Dilemma befinde, das er aus eigener Kraft nicht auflösen könne. [12]

Mit einer grandiosen Einseitigkeit bieten sich die christlichen Kirchen als Garanten jener Voraussetzungen an, auf der die Freiheit beruht. Das lässt sich aber weder durch den Text selbst begründen [13], noch realgeschichtlich irgendwie plausibel machen. Ich erinnere hier nur daran, dass die christlichen Kirchen dem übelsten Angriff auf Freiheit und Menschenwürde während des Nazi-Terrors keinen nennenswerten Widerstand entgegen gesetzt haben.

Der Historiker Saul Friedländer hat diese Negativ-Leistungen mit bedrückender Gewissenhaftigkeit aufgelistet. Selbstverständlich gab es verschiedene Initiativen, die sich dem Unheil aus christlicher Überzeugung heraus entgegenstemmten. Aber diese vereinzelten Widerstandsaktionen entsprangen nicht der Kirche als Institution, sondern dem je besonderen persönlichen Gewissen eines Menschen oder einer kleinen Menschengruppe, und das scheint mir charakteristisch für die gesamte Kirchengeschichte zu sein.

Mit anderen Worten: Kirchen sind keine Voraussetzungen für gesellschaftlichen und globalen Frieden. Sie können je nach kirchlicher Konstellation zum Frieden beitragen, wie auch die säkularen Kräfte auf ihre Weise. Eine Art Copyright der Kirchen auf Freiheit und Frieden ist historisch nicht zu erkennen.

Ich plädiere darüber hinaus dafür, das Böckenförde-Dilemma aus seiner einseitigen Deutung zu befreien und inhaltlich gleichsam umzudrehen. Das wäre ein Akt der Dekonstruktion, die sich immer für das interessiert, was nicht gesagt wird. Nicht gesagt wurde bisher, und deswegen sage ich es jetzt, dass die Kirchen heutzutage von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht garantieren können. Diese Voraussetzungen liegen in den Grundrechten und menschenrechtlichen Bestandsgarantien des säkularisierten Staates.


Für Lebens- und Weltorientierungen, die sich nicht militaristisch-imperialistisch vereinnahmen lassen

Mein Plädoyer für eine Stärkung des Friedens durch Fortsetzung der Säkularisierung kann sich nicht nur auf die Liste der Friedensnobelpreisträger berufen, in der keine durchgehend religiös-kirchliche Zuordnung zu erkennen ist, sondern auch auf die Geschichte der Philosophie, in die ich mich als Historiker und Humanist immer wieder vertiefe, wenn ich Selbstgewissheit und Trost suche.

Denken wir zurück an Sokrates (469-399), der gerne als "Vater des Humanismus" bezeichnet wird. Er war kein Atheist im heutigen Sinn, weiß Gott nicht, aber er trieb die Kritik an unreflektierter Gläubigkeit bis zum Äußersten. Er hörte nicht auf das, was die Leute sagten, sondern hörte auf seine innere Stimme (Daimonion), die man als die Stimme des Gewissens verstehen kann. [14]

Er lehrte kein geschlossenes Denk- oder gar Glaubenssystem, hinterließ keine einzige schriftliche Fixierung seines denkerischen Anspruchs an sich selbst und die Menschen, sondern unterhielt sich einfach mit seinen Mitbürgern, um so, im Gespräch, der Wahrheit näher zu kommen. Er lebte, was er lehrte. Angeklagt wegen angeblicher Verhetzung der Jugend zur Gottlosigkeit (eine absurde Anklage) und daraufhin zum Tode verurteilt, schlug Sokrates alle Möglichkeiten der Flucht aus und trank den Schierlingsbecher, um mit dem Freitod zu bestätigen, was ihm existenziell wichtig war. Psychologisch modern gesprochen: Seine bewusste Selbsttötung war die Rettung des Selbst.

Kann man sich einen Krieg vorstellen, der im Namen des Sokrates angezettelt wird? Nein, das kann man nicht, und das gilt tendenziell auch für unzählig viele weitere Einzelpersonen, für Goethe, Kant, Mendelssohn, Jaspers - die Reihe ist faktisch unendlich, und sie müsste auf die außereuropäischen Länder ausgedehnt werden, in denen ich mich wenig auskenne.

Nicht nur bestimmte Philosophen, die die Würde des freien Denkens gegen theokratische Vorschriften zu behaupten wussten, auch Kunst und Literatur bilden eine mächtige Strömung im breiten, unaufhaltsamen Strom der Säkularisierung. Folgendes Goethe-Zitat soll dafür nur als symbolhaftes Signal in Erinnerung gebracht werden: Die wahre Poesie kündigt sich dadurch an, dass sie als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. [15]

Dann müssen aber auch, so kann man hier einwenden, Franz von Assisi (1181/82-1226) und Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) zu Wort kommen und gehört werden. Selbstverständlich! Im Namen des Franz von Assisi lässt sich ebenso wenig Krieg führen wie im Namen des Sokrates. Unterschiede bestehen trotzdem, vor allem im Hinblick auf die Gesamtzusammenhänge. Wenn ich mich der Assisi-Bewegung anschließe [16], unterstütze ich, ob ich will oder nicht, die Papstkirche, die ihren Weltherrschaftsplänen bis heute nicht abgeschworen hat.

Hier liegen die spezifischen Gefahren, die von Sokrates und seiner Philosophie eben nicht ausgehen. Religionen als Glaubens- und Herrschaftssysteme enthalten mit ihren jeweiligen Exklusivitätsansprüchen destruktive Potenziale, die leicht, allzu leicht, für kriegerische Zwecke instrumentalisiert werden können. [17] Der in den meisten Religionen ausgeprägte Dualismus verstärkt und verewigt diese Gefahr ideologisch. Er teilt die Menschen ein in Gute oder Böse, in Erwählte oder Verdammte, in Gläubige oder Ungläubige, versieht diese Polarisierungen mit Gottesbezug und Todesandrohung und entzieht sie damit dem Gespräch.

Wegen dieser vor allem im Kern des christlichen Abendlandes angelegten Dichotomisierung des Lebens und der Welt muss die Säkularisierung im oben skizzierten Sinn fortgesetzt und intensiviert werden, gerade in Europa, was zum Beispiel konkret bedeutet, dass in den staatlichen Schulen Fächer wie Ethik/Philosophie oder Werterziehung/Lebenskunde Vorrang erhalten und der Religionsunterricht als freiwilliges Angebot in die Nachmittagstunden verlegt werden müsste.

Doch seien wir vorsichtig und behutsam. Auch die Säkularisierung, das möchte ich zum Abschluss dies Abschnitts ausdrücklich erwähnen, kann auf Irrwege oder in Sackgassen geraten, wie vor allem die Geschichte des Kommunismus drastisch gezeigt hat. Dieser Kommunismus hat freilich selbst Züge einer Religion angenommen, was inzwischen hundertfach nachgewiesen und erörtert wurde und daher hier nicht weiter entfaltet werden muss. [18]

Die größte Gefahr der Säkularisierung besteht darin, selbst eine neue Heilslehre anbieten zu können. Das geschieht oft unterschwellig, indirekt, etwa als Wissenschaftsglaube. Auch die Philosophiegeschichte ist kein Lehrpfad des Pazifismus.

Säkularisierung, wie sie hier thematisiert wird, polarisiert nicht, sondern gleicht aus und baut auf. Sie bevorteilt nicht eine Religion auf Kosten der anderen, Verfassungsloyalität vorausgesetzt. Sie ersetzt nicht Gott als obersten Gerichtsherrn durch die Vernunft, weil auch diese, wie etwa die Französische Revolution gezeigt hat, missbraucht und instrumentalisiert werden kann, sondern eröffnet ergebnisoffene Gespräche ohne Missionsanspruch. Auch die Vernunft kämpft, aber das ist, um Jaspers zu zitieren, ein "liebender Kampf", ein Kampf in ständiger Auseinandersetzung mit dem Gewissen.

Säkularisierung fokussiert auf der historiographisch-soziologischen Begriffsebene ein Erleben, das im Leben selbst seine Befriedigung findet und transzendierender Bezüge auf Gott oder das Jenseits nicht bedarf. Befriedigungen im Lebensgeschichtlich-Subjektiven und Frieden in größeren objektiven Zusammenhängen überschneiden sich für mich in großen Teilen ihrer Geltungsbereiche. Frieden ist ungeteiltes, ganzes Leben, hier und heute.


Exkurs: Sokrates, das Sokratische als Prinzip, Globalisierung

Sokrates ist eine Person der realen Philosophiegeschichte, die mangels Quellen schwer zu rekonstruieren und gerade deswegen vor Idealisierung und Mythologisierung zu schützen ist. Das schließt aber nicht aus, dass die Lebens- und Gesprächsform des Sokrates, soweit sie überliefert und zu erkennen ist, als zeitunabhängiges Prinzip begriffen und vertreten wird, auch und gerade im globalen Zusammenhang, der bislang noch von ideologisierten Religionen angetrieben wird. [19]

Für die Stärkung des Friedens in mentalitätsgeschichtlicher und vor allem pädagogisch-didaktischer Perspektive kommt es weniger auf die weltanschauliche Zugehörigkeit an, als vielmehr auf die dieser Zugehörigkeit vor- oder übergeordnete menschliche Haltung, die auf einem grenzüberschreitenden Interesse gegenüber anderen Menschen, der Natur und dem Leben überhaupt beruht.

Säkularisierung nach der hier entwickelten Vorstellung ist nicht darauf aus, Religionen zu vernichten, sondern sie im Rahmen freiheitlicher Verfassungen auf ihre Plätze zu verweisen, die der Partikularität der Lehre entsprächen und politisch materiell zu verhandeln wären. Auf dieser Linie würde sich Säkularisierung weniger "im Modus der Übersetzung" vollziehen, wie der Philosoph sich das vorstellt [20], als vielmehr im Rahmen der Menschen- und Grundrechte, die Religionen schützen, aber auch in ihren Geltungsansprüchen einschränken: "Es besteht keine Staatskirche" [21], die "Vielfalt von Kulturen, Religionen und Sprachen" ist zu achten. [22]

Ohne säkularen Ausgleich und staatliche Aufsicht würden die Religionen weiterhin um Vorherrschaft kämpfen, und zwar nicht nur in den legitimen Formen von Vorbild und Angebot, sondern auch in vielen anderen, weniger feinen Formen, über die ich als Vertreter der Humanistischen Lebenshunde in Berlin einiges mitteilen könnte. [23]

Doch nichts fürchten die Religionen mehr - vor allem bei uns in Deutschland - als eine Einschränkung ihrer Bedeutung aufs Private, Persönliche, Vom-Staat-Losgelöste, das schon Friedrich II. im Sinn hatte, als er anordnete: "In meinem Staat kann jeder nach seiner Façon selig werden" [vorausgesetzt, er hält sich an die Gesetze und führt seine Steuern ordentlich ab]. [24]

Was im aufgeklärten Absolutismus eine Marginalie war, ist global in voller Entwicklung, und das ist gut so. Wir müssen die Offenheit einer neuen weltgeschichtlichen Entwicklung riskieren. Gerade ohne Gottesbezug startet Europa eine emanzipatorische Offensive.


Die Menschenrechte - ein kostbares Gut, das allen zugute kommt

In der Sache waren Vernunft und Gewissen schon lange in Aktion, bevor sie in ihrem wechselseitigen Aufeinanderangewiesensein erkannt und 1948 als Paar zusammen getauft wurden. Die in der Französischen Revolution formulierten Menschenrechte sind die größte Leistung des zivilen, säkularen Selbstschöpfungsprozesses, der vor allem von den Päpsten, angefangen mit Pius VI. (Pontifikat von 1775-1799), im 19. Jahrhundert erbittert bekämpft wurde.

Der Widerstand hält bis heute an, wenn auch in recht vorsichtigen Formen. Der Vatikan hat als einziger europäischer Staat die Menschenrechtserklärung bis heute nicht unterschrieben. Das liegt wohl, feuilletonistisch verkürzt argumentiert, an dem Zwillingspaar von Vernunft und Gewissen, das die Päpste mit ihrem Anspruch, Sachwalter des Gewissens zu sein, nicht in die menschlich-säkulare Selbstbestimmung entlassen wollen.

Während die Päpste des 19. Jahrhunderts die Vernunft als obersten Maßstab des Handelns pauschal zurückgewiesen haben, ist die heutige katholische Kirche vorsichtiger und plädiert für das Zusammenspiel von Vernunft und Religion [25] wobei natürlich die allein selig machende katholische Religion gemeint ist. Ist das Gewissen Mitspieler der Vernunft oder ist es der Religion unterworfen? Der Unterschied scheint sprachlich, akademisch und somit unbedeutend zu sein. Er ist m.E. aber entscheidend für die Beantwortung existenzieller und politischer Fragen, die da u.a. lauten: Wo komme ich her? Wo will ich hin?

Die Opposition der Päpste im 19. Jahrhundert ist menschlich-historisch, verständlich; denn die Säkularisierung traf und bedrohte den Kernbestand der päpstlichen Besitztümer, sowohl materiell als auch ideell. Empörend für die Päpste war nicht nur die Enteignung von Kirchengütern, sondern auch, ja vor allem, die ideologische Entmachtung, die darin bestand, dass Gott als die über allen Menschen thronende Macht gleichsam aufgelöst wurde und das Papsttum damit seiner eigentlichen sakralen Legitimation verlustig ging.

Einen Höhepunkt der Opposition bildete der Syllabus errorum von 1864, den Pius IX. (Pontifikat 1846-1878) der sich modernisierenden Welt entgegenschleuderte. Der Syllabus war eine Zusammenstellung von achtzig "falschen" Aussagen, die die päpstlichen Mitarbeiter in der modernen Publizistik entdeckt hatten und die der Papst in bereits veröffentlichten Stellungnahmen ohne wenn und aber verurteilte.

Vor allem die Religions- und Pressefreiheit war dem Papst ein Dorn im Auge. Aber auch viele andere Errungenschaften der Säkularisierung - Freiheit des Gewissens, Hochachtung der Vernunft, der Wissenschaft und der Philosophie, die säkularisierte Eheschließung, der den Kirchen ebenfalls entzogene staatliche Schulunterricht, der Protestantismus als eine eigenständige Variante des christlichen Glaubens u.a.m. - verfielen dem päpstlichen Verdikt. Im letzten (80.) Satz, der verurteilt wird, weist der Papst das Ansinnen zurück, dass er sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Zivilisation versöhnen und vereinigen solle. [26]

Die Menschenrechte sind kein Geschenk des Himmels, sondern ein menschlicher, gesellschaftlicher, ja menschheitlicher Lern- und Veränderungsprozess, der mit vielen Opfern gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft wurde, der bereits viele Stationen und Generationen durchlaufen hat und noch viele, unübersehbar viele Generationen weitergehen wird, weitergehen muss, vor allem was seine effektiven lebenspraktischen Verwirklichungen angeht.

Aber die Gewinne, die dieser Prozess der Akkumulation von Humankapital abwirft, sind schon jetzt beträchtlich. Ich verweise nur auf den 1998 begründeten Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, den faktisch alle Europäer und Europäerinnen anrufen können, und auf den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag, der durch die Mitgliedstaaten der UNO beschickt wird. Mit der Gründung dieser Gerichtshöfe, die ihr Entstehen nicht zuletzt den schlimmen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verdanken, ist ein fundamental wichtiger Schritt aus den luftigen Höhen der Ideengeschichte hinab in die kruden Realitäten des politischen Alltags vollzogen worden, ein Schritt, von dem auch die Kirchen mehr und mehr profitieren.

Diesen Fortschritten gegenüber sind die Verluste durch Säkularisierung, die Habermas in der schon erwähnten Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 anspricht, zu verschmerzen. "Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen", schrieb Habermas. Und weiter: "Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren. ... Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere." [27]

Das mag in vielen Fällen so sein, und ich bekenne, dass die aus der Umstellung erwachsenden Verlustschmerzen auch für mich zeitweilig ein Problem waren. Doch welche Relevanz hat ein derartiges Problem? In welchem Verhältnis steht der Verlust zu den dafür eingehandelten Gewinnen? Ist vielleicht, psychologisch argumentiert, die Trauer über diesen Verlust blockiert?

Ich denke, dass Themen wie "Säkularisierung und ihre Folgen" in Ich-Sätzen zu verhandeln sind, zumindest im ersten Anlauf, weil sie auf höheren Abstraktionsebenen hüben wie drüben der Verlustlinie fast unausweichlich zu unzulässigen Verallgemeinerungen und politischen Instrumentalisierungen führen (wie überhaupt die eingangs angedeutete Annäherung nur um den Preis der Vermeidung real scharfer Ecken und Kanten gelingen kann).

"Ich kann und will meinen Gottglauben nicht aufgeben" - das ist ein Satz, in dem der Respekt vor ganz anderen Ichs unausgesprochen mitschwingt. "Ohne Gottglauben hat das Leben keinen Sinn und keinen Wert" - ein derartiger Satz ist eine theologisch bornierte Anmaßung.


Auf dem Weg zu lebendigen Beziehungen unter den Menschen weltweit

Ein besonders scharfer Kritiker der Religion war bekanntlich Sigmund Freud (1856 -1939), der Begründer der Psychoanalyse, die einen eigenen spektakulären Beitrag zum Fortgang der Säkularisierung, aber auch zur Stärkung des Friedens leistet, indem sie die unbewussten Antriebskräfte unseres Handelns bewusst macht und sich von den oft lügenhaften politischen und persönlichen Rechtfertigungen nicht täuschen lässt.

Obwohl die Psychoanalyse aus nachvollziehbaren Gründen von Anfang an bis heute auf massive Widerstände trifft, hat sie mit ihrem Programm für rückhaltlose Selbsterkenntnis in vielen Lebensbereichen Fuß gefasst, auch in den Kirchen, die neben der traditionellen gottorientierten Seelsorge auch psychoanalytisch fundierte Beratungen anbieten [28], etwa bei Familienkonflikten oder Lebenskrisen.

Ich möchte meine Ausführungen mit einem Begriff abschließen, der in der Tradition des psychoanalytischen bzw. tiefenpsychologischen Denkens und Forschens geprägt wurde, der dem ersten Eindruck nach aber eher spirituell oder mythologisch anmutet. Es ist der Begriff "Lebensspender", englisch life-giver (das Buch wurde aus dem Englischen übersetzt). Es wäre interessant, vorab in Erfahrung zu bringen, was Leserinnen und Leser mit dem Begriff "Lebensspender" assoziieren. Strenggläubige Christen werden vielleicht sagen: Mein Lebensspender ist Jesus oder Gott: von ihm kommt alles, ohne ihn ist nichts. [29]

Strenggläubige Freudianer (aber nicht nur diese!) [30] könnten sagen: Das männliche, zeugende Glied, das ist der wahre Lebensspender. Man könnte drittens auch einen Seifen- oder Honigspender assoziieren, aus denen auf Knopfdruck die gewünschte Menge Seife oder Honig heraus quillt. Das alles meinte Symington, der Autor, nicht, wie Sie sich schon denken können.

Symingtons Lebensspender ist eine gewagte begriffliche Konstruktion, zur entwicklungspsychologischen Kennzeichnung der Möglichkeit, sich gegen narzisstische Selbstbezogenheit und für lebendige, kreative Beziehungen zu anderen Menschen zu entscheiden. Psychologen nennen die Disposition zu einer derartigen Möglichkeit ein inneres, seelisches Objekt. Oft findet man auch den scheinbar widersprüchlichen Begriff des Selbstobjektes.

In seiner offenbar von C.G. Jung inspirierten Theorie [31] ist der Lebensspender ein inneres, seelisches Objekt, das entsteht, wenn man sich dafür entscheidet. Mit der Entscheidung eröffnet man sich selbst eine Quelle des kreativen lebendigen Handelns, das als Gegenteil zum toten Aktivismus zu sehen ist.

Es ist hier nicht der Ort zu diskutieren, inwiefern die Theorie riskant und kritisch zu überdenken ist. Mich spricht sie an, weil mir Symingtons innerer Lebensspender ein Verwandter des Sokrates'schen Daimonion zu sein scheint, der seinerseits weitere Akteure mit je verschiedenen Namen um sich schart, die da heißen könnten: Sorge und Fürsorge, Mitgefühl, Einfühlung, Verantwortungsfähigkeit, Friedensfähigkeit, das englische care, Schuldgefühltoleranz u.a.m. [32]

Säkularisierung spürt diesen in den Menschen selbst liegenden Kräften nach, um sie stärken zu können, politisch, wissenschaftlich, pädagogisch, persönlich. Säkularisierung, so wie ich sie verstehe, dient der Rückführung von sakralen Zusammenhängen mit ihrem legitimatorischen Gottesbezug auf ihre profan-irdischen Ursprünge. Säkularisierung und Humanisierung sind in meiner Sicht zwei Entwicklungsprozesse die sich überschneiden und wechselseitig ergänzen.

Die heutige Veranstaltung bestätigt meine Sicht. Ich konnte als agnostischer Humanist in einem kirchlichen Rahmen sprechen, was historisch keineswegs selbstverständlich ist. Vor einigen hundert Jahren sind Menschen meiner Überzeugung noch heftig gemaßregelt, verflucht oder gar auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Dass dies nicht geschieht, habe ich Ihnen und der Säkularisierung zu danken.


Anmerkungen

[1] Ausführlicher über das Ineinander von Säkularisation und Säkularisierung in je verschiedenen historischen Kontexten vgl. humanismus aktuell, Hefte 10 und 12.

[2] Publikationen des Friedensforschers Karlheinz Lipp enthalten dafür zahlreiche Belege, die auch für den schulischen Gebraucht gut geeignet sind. Lipp arbeitet als Studienrat in Berlin.

[3] Habermas 2001, S.29. - Zur verführerischen Metapher der Übersetzung vgl. unten den Exkurs.

[4] Wolfgang Huber. Die Verantwortung der Kirchen für den Frieden. Der Text ist über Internet beim Evangelischen Pressedienst leicht zu finden (letzter Zugriff des Verfassers erfolgte im August 2007).

[5] Historisch ist die Einrichtung einer Staatskirche bis auf Konstantin, genannt der Große, zurückzuführen (Toleranzedikt von Mailand, 313). Die Trennung von Kirche und Staat ist erst 1919 mit der Weimarer Reichsverfassung vollzogen worden, ohne dabei konsequent zu sein.

[6] Huber leitet den politisch wichtigsten VII. und letzten Teil seiner Ansprache mit einem "irenischen cetero censeo" ein, dessen realhistorischer Ursprung ihm bekannt und bewusst ist. "Im Übrigen bin ich der Meinung - ceterum censeo -, dass Karthago zerstört werden muss", soll Cato der Ältere am Ende seiner Reden gesagt haben. Was bedeutet es psychohistorisch, wenn die Werbung für eine Kirchenpolitik des Friedens mit einer imperialistischen Vernichtungsfantasie abgeschlossen wird, die dann zur Wirklichkeit wurde (Zerstörung Karthagos 146 v. Chr.)?

[7] Exemplarisch sei auf die Zahl der Muslime in Deutschland verwiesen: Es sind rund dreieinhalb Millionen, von denen mehr als eine Million die deutsche Staatsangehörigkeit haben.

[8] Im Unterschied zur narzisstischen Größenfantasie, die Hubers Text an einigen Stellen unverhüllt dokumentiert (pointiert zusammengefasst: "Wir sind hier die Friedensstifter"), verstanden sich die Kirchen in den 1980er Jahren, zumindest an der Basis, eher als Teil einer umfassenden Bewegung, in der die jeweiligen Eigeninteressen im Gesamtinteresse am Erhalt des Friedens aufgehoben waren.

[9] In den Niederlanden wird parallel zur christlichen Seelsorge auch eine humanistische Beratung für Soldaten angeboten. Ob diese Einrichtung auf Deutschland übertragen werden sollte, wäre zu diskutieren. Ohne ein gesamteuropäisches Mandat bin ich eher dagegen und denke in Anwendung des Leitbildes vom mündigen Menschen: Wer Seelsorge oder Beratung braucht, der möge das in eigener Verantwortung außerhalb der militärischen Institutionen und Zuständigkeiten in Gang bringen.

[10] Vgl. dazu auch den Vortrag von Kirchenpräsident Peter Steinacker in der Reihe Mainzer Texte. - Bestätigung für meine Einschätzung finde ich in den Publikationen des Inders Amartya Sen, Nobelpreis 1998 für Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie, der eine Commonwealth Commission on Respect and Understanding geleitet hat und gegenüber dem Dialog der Religionen die Bedeutung von civil paths to peace betont.

[11] Bezeichnenderweise hat sich die Bezeichnung Böckenförde-Diktum durchgesetzt und nicht die Bezeichnung Böckenförde-Dilemma. Ein Diktum besagt, in Umgangssprache übersetzt: So ist es, punktum. Ein Dilemma besagt, in Umgangssprache übersetzt: Da haben wir ein schwer oder gar nicht lösbares Problem.

[12] Böckenförde 1976, S.60.

[13] kurze Abschnitt sagt ausdrücklich, dass der Staat uns aus dem Totalitätsanspruch der konfessionellen Bürgerkriege heraus geführt habe. Weitere Abwägungen zum Böckenförde-Diktum finden sich u.a. bei Habermas 2007 im Gespräch mit Ratzinger.

[14] Die als "Dämon" bezeichnete innere Stimme des Sokrates ist verschieden gedeutet worden. Während Denker 2002 mit Rückgriff auf Hegel hier die Entdeckung des Gewissens sieht, lehnt Guardini 1961 diese rationalistische Erklärung entschieden ab, um dagegen das Numinose, Religiöse zur Geltung zu bringen.

[15] Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit, 13. Buch (Hervorhebung P. S.-H.).

[16] Wer "Assisi" und "Frieden" in eine Suchmaschine eingibt, wird auf dementsprechende Bewegungen und Initiativen stoßen (Gemeinde Sant'Egidio), die exklusiv christlich sind.

[17] In seinem Buch Angriff auf die Vernunft entwickelt und begründet Al Gore (Bushs Kritiker und früherer Konkurrent) die These, dass nicht die Religion als solche Schuld an der steigenden Gewalt sei, sondern die bedenkenlose Indienstnahme der Religion für reaktionäre, egomanische Interessen. Schlimm genug für die Religion, wenn sie sich missbrauchen lässt! Dem entsprechend halte ich es für einen produktiven Ansatz, eine Geschichte der Philosophie anhand von "großen Philosophen" mit "maßgebenden Menschen" zu beginnen und diese aus den Herrschafts- und Systemzwängen zu befreien, in die sie einige Zeit nach ihrem Wirken geraten sind. Für Karl Jaspers (1995) sind "die maßgebenden Menschen" Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus (!).

[18] Ähnliches gilt für den Nationalsozialismus, der als säkularer Erlösungswahn verstanden werden kann. Belege dazu bei Schulz-Hageleit 2006. Böckenförde 2007, S.27-31 sieht die Ursprünge der Zivilreligion in Rousseaus Contrat social. - Wenn einige Strömungen des modernen Atheismus alle Übel dieser Welt den Religionen anlasten und sich selbst damit zumindest indirekt als Erlösung anbieten, dann ist das weit von den hier entfalteten Perspektiven entfernt, ja unvereinbar mit diesen. Projektiv aufgeladene Hass- und Hetzpredigten, egal von wem sie kommen, dienen alle Male der Gewalt.

[19] Vgl. dazu den Vortrag von Hans G. Kippenberg, ebenfalls in der Reihe Mainzer Texte verfügbar, über Religionen als "Brandbeschleuniger".

[20] Habermas 2001, S.29. - Eine "Übersetzung" bleibt, metaphorisch und wörtlich verstanden, immer dem Originaltext verpflichtet. Daher haben die Kirchen nach diesem Diktum sofort applaudiert und Habermas für ihre Zwecke vereinnahmt, ganz ähnlich wie zuvor Böckenförde. Böckenförde und Habermas sind aber keine Kirchenväter.

[21] Artikel 137 der Weimarer Verfassung, der in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (Artikel 140) übernommen wurde.

[22] Artikel 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, proklamiert 2000 in Nizza.

[23] Humanistische Lebenskunde ist ein freiwilliges Schulfach, das in Berlin neben dem Religionsunterricht angeboten wird und inzwischen für etwa 45.000 SchülerInnen erteilt wird.

[24] Zum historischen Hintergrund dieses Ausspruchs s. Büchmann 1990, S.352. - Ähnlich wie Friedrich II. argumentierte schon 1562 Michel de L'Hopital, der Kanzler des Königs von Frankreich, auf den sich Böckenförde 2007 (S.18, 58) bezieht. - Wie kompliziert das Verhältnis zwischen Religion und säkularem Staat im heutigen Europa ist, zeigten die Referate einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin, 12.09.2007: Religion und säkularer Staat-Perspektiven eines modernen Religionsgemeinschaftsrechts.

[25] Vgl. Ratzinger 2007, S.56f.

[26] Dem Widerstand der Päpste gegen die Religionsfreiheit widmet Böckenförde 2007 eine längere informative Fußnote (S.21).

[27] Habermas 2001, S.24f.

[28] Das gilt meines Wissens für die protestantischen Kirchen; über andere christliche Denominationen und nicht-christliche Religionen kann ich mir kein Urteil erlauben.

[29] In dem Zusammenhang ist es von Interesse zu vermerken, dass Symingtons Buch im Nachdenken über das Thema Psychoanalyse und Religion entstanden ist. Narzissmus sei das Bindeglied zwischen beiden.

[30] Phallus des Gottes Shiva bildet den Mittelpunkt eines Hindu-Tempels, den das Völkerkundemuseum in München rekonstruiert hat. Diese religiöse Manifestation wirft ein grelles Licht auf die Sexualfeindlichkeit des Christentums, die zum Glück allmählich - im Zuge der Säkularisierung (1) - ihre lebensfeindliche Schärfe verliert. - Aus feministischer Sicht ist die eine wie die andere Hochschätzung dieser Form von Sexualität eine maskulin-irrationale Machtdemonstration und daher abzulehnen.

[31] Die von Carl Gustav Jung (1875-1961) begründete "analytische Psychologie" hat für Religionen im Allgemeinen und religiöse Glaubensinhalte im Besonderen weit mehr Verständnis entwickelt als die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Die heftigen wechselseitigen Aversionen der psychologischen Schulen haben mit der Zeit sachlicheren Auseinandersetzungen Platz gemacht.

[32] Ausführlicher zu diesem Gedankenkomplex habe ich mich in dem Sammelband Geschichtsbewusstsein und Zukunftssorge geäußert. Vgl. insbesondere Erster Teil, 6. Kap., über Geschichtsbewusstsein und Schuld(gefühl)toleranz. - Das psychologische Lebensspender-Konstrukt ist nur eine Variante von unübersehbar vielen verschiedenen Annahmen eines unzerstörbaren menschlichen Wesenskerns, der sich - um ein Beispiel zu zitieren - nach einer jüdischen Überlieferung im Luz befindet, einem Knöchelchen der Wirbelsäule. Ausführlicher dazu im ideengeschichtlichen Kontext vgl. Encyclopaedia britannica 2002, 16. Bd., über Vorstellungen des Todes (Death: S.982-994, über Luz S.989). Anatomisch-real gibt es den Luz ebenso wenig wie den psychologischen Lebensspender.


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 22 - Sommer 2008, Seite 61-74
Hefte für Kultur und Weltanschauung
Herausgegeben von der Humanistischen Akademie Berlin
diese Ausgabe in Kooperation mit der Humanistischen Akademie
Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2008