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STANDPUNKT/179: Warum nicht dem Tod entgegengehen? (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 84/2008 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Warum nicht dem Tod entgegengehen?
Gespräch mit Ingrid Sander

Von Patricia Block


Ingrid Sander lebt in Erfurt/Thüringen. Sie ist schwerkrank und denkt in aller Öffentlichkeit über die Möglichkeit nach, ihr Leben selbst zu beenden. Patricia Block sprach mit ihr über ihre Beweggründe.


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DIESSEITS: Frau Sander, Sie sind schwer krank, worunter genau leiden Sie?

INGRID SANDER: Ich hatte 1943 mit fünf Jahren eine schwere Poliomyelitis, Kinderlähmung. Damals waren alle Gliedmaßen, Rücken und Kopf gelähmt. Leiden - das Wort gefällt mir nicht, aber wenn Sie das so formulieren, dann lassen wir es auch dabei. Nach Jahren einer erträglichen Phase wirken sich die Spätfolgen der Polio - auch Postpoliosyndrom (PPS) genannt -, wie eine zweite Neuerkrankung aus. Dieser Prozess kann über mehrere Jahrzehnte schleichend oder akut verlaufen und führt zu chronischen Schmerzen, Muskelschwäche, zunehmender Kälteintoleranz, Müdigkeits- und Erschöpfungszuständen, Krämpfen, Schlafstörungen, fortschreitender Bewegungs- und Gehunfähigkeit, um nur einiges zu nennen. Dämonen, die mich in fröhlichem Wechsel einzeln oder geballt heimsuchen. Abgesehen von den auch "gesunde" Leute treffenden "Altersbeschwerden". Das schlimmste ist die recht häufig stattfindende soziale Ausgrenzung und die Flucht der Freuden.

DIESSEITS: Seit wann ist es für Sie besonders schlimm und womit müssen Sie eventuell noch rechnen?

INGRID SANDER: Begonnen hat das für mich bewusst Heiligabend 1996 mit einem Sturz und der Fraktur meines linken Knies, 1997 Bruch des rechten Knies, 1999 Oberschenkelfraktur rechts, 2003 wieder rechtes Knie, 2004 hatte ich mir das rechte Wadenbeinköpfchen angebrochen. Der letzte Unfall war der schmerzhafteste und es ging gar nichts mehr bei mir. Dazu hat sich noch eine Diabetes gesellt, und die Ärzte überlegen schon, ob sie mir eventuell noch ein Bein abnehmen. Das hieße dann für mich völlige Bewegungsunfähigkeit, denn in meinen Armen habe ich keine Kraft, um mich im Bett zu drehen oder anzuheben. Die Vorstellung, über längere Zeit (im wahrsten Sinne des Wortes) ans Bett gefesselt zu sein, von Dekubitus zerfressen, von Krämpfen geschüttelt und und und - all die endlosen schmerzerfüllten Stunden, Tage, Nächte. Dann habe ich nur noch den Tod als einzige Verbesserung vor Augen. Ja, und warum ihm nicht entgegengehen?

DIESSEITS: Bringen Ihnen Schmerzmittel keine Erleichterung?

INGRID SANDER: Nur sehr partiell und manchmal gar nicht. Und was bei einigen Schmerzen ohne unerwünschte Nebenwirkungen hilft, ist nur auf Privatrezept erhältlich. Das kann ich mir aber nicht leisten. Weil ich arm bin, muss ich nicht nur eher sterben, sondern auch länger und heftiger leiden. Besorge ich mir aber den Wirkstoff auf der Straße, bin ich kriminell. Ich rede von Cannabis, der auch in unseren Breitengraden heimischen, uralten Heilpflanze, seit Jahrzehnten zur kulturfremden Droge hochstilisiert. Aber irgendwann hilft gar kein Mittel mehr, das muss man auch mal klar sagen. Allerdings bin ich nicht der Typ, der demütig und gehorsam vor sich hin leidet. Sehen Sie, jetzt habe ich das Wort leiden selbst benutzt. Ich glaube, jetzt habe ich die Formulierung. Leiden sind für mich Zustände, denen ich hilflos ausgeliefert bin, also wenn ich keinen Einfluss mehr auf mein Leben, meine Bedürfnisse und Wünsche nehmen kann, dann glaube ich, würde ich lieber sterben wollen. Aber wann dieser Zeitpunkt genau eintrifft - wer kennt schon im Voraus das Ausmaß seiner Leidensfähigkeit?

DIESSEITS: Aber ist das nicht genau das falsche Argument, man könnte Ihnen entgegenhalten, Sie bräuchten einfach nur bessere Schmerzmittel. Dann wollte und müsste niemand mehr früher sterben.

INGRID SANDER: Auch das ist eben nur die mehr als dreiste Lüge, die von Medizinfunktionären und anderen Nutznießern verbreitet wird. Etwa 5 bis 15 Prozent der Menschen sind schmerzlinderungsresistent. Und beim Dekubitus sowieso. Wer das nicht weiß, verlässt sich auf windige Versprechen. Und wenn jemand merkt, dass er angelogen wurde, befindet er sich meist schon in jenem hilf- und wehrlosen Zustand, in dem er sich kaum noch artikulieren kann, geschweige denn wehren, denn die Opiate lähmen auch die Stimmbänder.

DIESSEITS: Sie treten für das Recht ein, über den Zeitpunkt seines eigenen Todes bestimmen zu können. Wie genau sollte das ablaufen? Wünschen Sie sich dabei ärztliche Hilfe?

INGRID SANDER: Ich habe als Kind oft im Krankenhaus gelegen. Dort habe ich die Sterbenden schreien gehört, das geht mir bis heute nicht aus dem Ohr. Seitdem wünsche ich mir, meinen Tod bei vollem Bewusstsein und im Kreise meiner Familie und Freunde erleben zu können. Ein totales Ausgeliefertsein an die kollektive Gleichgültigkeit sprich Pflegeheim, wäre für mich das Letzte, was mir widerfahren soll. Ein Arzt kann dabei nicht von Schaden sein, sofern er meinen Willen respektiert. Denn das Schrecklichste ist, in meiner Wehrlosigkeit gegen meinen Willen die Begehrlichkeiten fremder Interessen über mich ergehen lassen zu müssen, wie Heimmafia, gern leichtes Geld verdienende Ärzte (so was soll es geben), Pharmaindustrie, Hilfsmittelhersteller usw.

Man will Sterbende "retten", obwohl die Behandlung im höheren Lebensalter so gut wie immer tödlich ist, jedenfalls mit kaum Aussicht auf Erfolg. Und die Lebenwollenden und Lebenkönnenden speist man mit dem Lebensnotwendigsten ab. Das ist schizophren und schizophren ist auch nicht gesund.

DIESSEITS: Was genau erhoffen Sie sich von einer gesetzlichen Regelung?

INGRID SANDER: Das, was man jetzt als Gnadenakt verantwortungsvoller Ärzte hinstellt, zu einem Grundrecht für jeden zu deklarieren, ganz egal ob ich Gebrauch davon mache oder nicht. Ansonsten liegt es wieder im Ermessen anderer, ob ich schwerst leidend bin, oder ich das bisschen Schmerz wegstecken kann. All das im Namen von Ethik und Lebensschutz. Womit ich wieder Fremdinteressen ausgeliefert bin und sich das ganze weiterhin in einer Grauzone bewegt.

DIESSEITS: Können Sie sich vorstellen, Ihr Recht auf einen selbst bestimmten Tod gerichtlich einzuklagen?

INGRID SANDER: Ja! Wenn ich das Geld hätte, sofort.

DIESSEITS: Wie stehen Ihre Kinder zu diesen Fragen?

INGRID SANDER: Ich habe meine Kinder von klein auf damit konfrontiert. Ich habe sie bei diesem Thema nie weggeschickt oder ein Blatt vor den Mund genommen. Immer habe ich mir einen wirksamen Schlummertrunk vorgestellt - jetzt Natriumpentobarbitural - wobei ich friedlich einschlafe - und wenn ich dann munter werde, bin ich tot. Ein bisschen flapsig ausgedrückt, aber genau so wünsche ich mir das. Mich hat schon immer beschäftigt, weshalb die Tötung auf Verlangen strafbar ist, aber das Töten und Getötetwerden von tausenden Menschen mit Orden belohnt wird. Fürchte, das wird mir wohl ein ewiges Geheimnis bleiben. Im Übrigen stehen beide Kinder hinter meinen Intentionen von einem selbstbestimmten Sterben. Gelegentlich überlegen auch sie schon, ob sie nicht vor Gericht ziehen und einen Präzendenzfall schaffen sollten.

DIESSEITS: Haben Sie Angst, Ihren Kindern zur Last zu fallen?

INGRID SANDER: Nein. Und auch nicht den anderen Menschen in meinem Umfeld. Ich sage immer, ich muss mit den anderen leben, dann müssen sie das auch mit mir.

DIESSEITS: Sie haben sicher von dem neuen Ratgeberbuch gehört, das genaue Rezeptangaben zu einem, wie Sie es nennen "Schlummertrunk", enthält. Was halten Sie davon, ein solches Buch für jeden zugänglich zu machen?

INGRID SANDER: Ist das Buch wirklich für jeden frei verkäuflich? Ich kann einen Ratgeber, der meine Autonomie stärkt, nur als gut empfinden. Wenn es um meine Gesundheit geht, bin ich selbst verantwortlich. Also habe ich auch das Recht, selbst verantwortlich Bücher kaufen zu können oder auch nicht. Den Skeptikern sei gesagt, der Schaden wird sich in Grenzen halten - das Thema wird erstaunlich gern verdrängt - wer denkt schon freiwillig an seine Endlichkeit.

DIESSEITS: Was halten Sie von dem Fall Kusch?

INGRID SANDER: Herr Dr. Kusch hat genau das richtige getan. Er hat die Massen aufgeschreckt. Das zeigt, was für ein Bedarf vorliegt. Die Sonntagsreden von Politikern und Kirchenvertretern sind so verlogen und substanzlos wie eh und je. Das macht sie nicht glaubwürdiger. Im Übrigen bin ich doch nicht gezwungen, seine "Tötungsmaschine" zu kaufen. Ich werde von der Regierung und den Politikern als "mündiger Bürger" hofiert, behandelt werde ich aber wie ein Idiot. Weil die Menschen anfangen, das zu begreifen, soll Dr. Kusch von jenen, deren Kreise er stört, auf dem Altar der göttlichen Demut geopfert werden. Doch von denen, die unter jämmerlichen Qualen elend verenden, wird dabei fast nie gesprochen. Wenn ich mein Menschenrecht auf selbstbestimmtes Sterben geltend mache, fühlen sich Lobbyisten politischer, weltanschaulicher, religiöser und monetärer Interessen in ihrer Gier nach Macht und Standesrecht bedroht. Menschen wie ich, die sich der barbarischen "Fürsorgepflicht" des Staates durch Gehorsamsverweigerung entziehen wollen, sollen als Gefahrenpotenzial durch neue Gesetze bestraft werden, sozusagen prophylaktisch. Hatten wir das nicht schon einmal?

Frau Bettina Schardt (Dr. Roger Kusch begleitete die Rentnerin B. Schardt, 79, aktiv in den Tod. D. Red.) hatte eine bewundernswert gelassen-locker-heitere Einstellung zum Sterben, die allen Menschen zu wünschen wäre. Sie hatte verinnerlicht, dass unsere Lebensdauer nicht ewig währt.

Carpe diem! Und lauthals herumzutönen: "... eine völlig gesunde Frau..." heißt, die Nachwelt vertrotteln zu wollen. Mit 79 Jahren ist man nicht mehr "gesund", nur weil sie nicht jedem die Ohren vollgejammert hat. Vermutlich wusste nur sie selbst, wie beschwerlich ihr Dasein inzwischen geworden war. Sie hatte einen klaren logischen Verstand, den sie nicht außer Kraft gesetzt wissen wollte. Ihre Angst vor dem Pflegeheim ist mehr als verständlich. Ich selbst kann ihre Beweggründe hundertprozentig nachvollziehen und möchte es einmal genauso machen wie sie. Ihr lag eben nichts an staatlicher Zwangsbeglückung. Sie hat sich die letzte Freiheit der Wahl genommen und die Demokratie samt Grundgesetz beim Wort. Wer wollte sie dafür tadeln? Auch ich werde mich durch die Androhung von Strafen nicht mundtot machen lassen.

DIESSEITS: Sie planen, in Kürze eine Patientenverfügung abzuschließen. Was werden sie darin festlegen?

INGRID SANDER: Meinen Traum und meinen unmissverständlichen Willen von und zu einem Sterben in Würde und ohne Angst nach meinen Vorstellungen und im Wortlaut wasserdicht gegen anmaßende Mutmaßungen oder/und mutmaßende Anmaßungen. Nach dem geplanten neuen Gesetz allerdings kann mir wahrscheinlich schon die Formulierung, das Gespräch über die gewünschte Todesart oder das Beharren auf dem Anspruch von Selbstbestimmung den Weg von der freiheitlichen Demokratie direkt in die Verliese des Vatikans bahnen. Denn in Deutschland scheint die Trennung von Staat und Kirche nicht stattgefunden zu haben. Wie sonst könnte mir der Klerus vorschreiben, wie ich meinen Tod nicht gestalten darf. Oh Deutschland, deine Heuchler!

DIESSEITS: Frau Sander, morgen feiern Sie Ihren 70. Geburtstag. Was kann man Ihnen wünschen?

INGRID SANDER: Tja, wohl Gesundheit (lacht). Nein im Ernst, die Beschäftigung mit diesem Thema verdirbt mir überhaupt nicht den Appetit, morgen werden wir wohl an die 20 Leute sein und richtig feiern. Ich habe viele gute Freunde, wenn die mir nicht ein Leben lang soviel geholfen hätten, ich hätte es gar nicht geschafft bis hierher. Und trotzdem, wenn man es nicht mehr ertragen kann, soll man gehen können dürfen. In Würde!


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 84/September/08, S. 15-16
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"diesseits" erscheint vierteljährlich am
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2009