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WISSENSCHAFT/011: Auf dem Weg zu einer "Einheit des Wissens"? (ha)


humanismus aktuell - Hefte für Kultur und Weltanschauung - Nr. 19 - Herbst 2006

Auf dem Weg zu einer "Einheit des Wissens"?

von Michael Schmidt-Salomon


Anmerkungen zur Geschichte der Evolutionstheorie sowie zur notwendigen Überwindung biologistischer und kulturistischer Denkmodelle

Aktualität der Entwicklungstheorie

"Nichts in der Biologie ergibt Sinn, außer man betrachtet es im Lichte der Evolution". Dieser viel zitierte Satz des Genetikers und Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky aus dem Jahre 1937 wurde in den letzten sieben Jahrzehnten auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Die Evolutionstheorie ist ein Faktum, das heute kaum ein ernstzunehmender Forscher noch bestreitet - die Grundlagentheorie der Biologie schlechthin. Ihre Bedeutung ist aber keineswegs auf die Biologie allein beschränkt. Vielmehr zeigt sich heute, rund 150 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins Über die Entstehung der Arten, immer deutlicher, dass auch die meisten anderen Wissenschaften (mcl. der Philosophie) darauf angewiesen sind, ihre Ergebnisse im Lichte der Evolutionstheorie zu betrachten, wenn sie denn ein halbwegs angemessenes Bild der Wirklichkeit zeichnen möchten.

Dies heißt selbstverständlich nicht, dass die Evolutionsbiologie die anderen wissenschaftlichen Disziplinen dominieren oder gar ersetzen sollte, wie man vielleicht nach einer oberflächlichen Lektüre der maßgeblichen Werke Ernst Haeckels oder Edward O. Wilsons [1] meinen könnte. Auch wenn manche Formulierung der Autoren so klingen mag: Der Weg zur angestrebten "Einheit des Wissens" ist definitiv keine Einbahnstraße.

Es ist ganz gewiss nicht so, dass die Geistes- und Sozialwissenschaftler nur von den Biologen lernen müssten - und diese ihrerseits keinerlei interdisziplinärer Lernerfahrungen bedürften. Vielmehr gilt: Erst wenn sich ausreichend Vertreter anderer Disziplinen (Psychologen Philosophen Pädagogen, Politologen, Soziologen, Ökonomen usw.) ernsthaft in die evolutionstheoretische Debatte einmischen, wird das Projekt einer "Einheit des Wissen" vorankommen. Eine solche breitere Beteiligung an der evolutionstheoretischen Diskussion wäre schon allein deshalb sinnvoll, weil der gegenwärtige "Kampf der Kulturen" mit Vorliebe auch auf dem Gebiet der Evolutionstheorie ausgetragen wird (wobei sich in diesem speziellen Fall streng gläubige Christen und Muslime gerne "gegen den gemeinsamen Feind" verbünden).

Der Grund für die offensichtliche "Evolutions-Allergie" der Gläubigen liegt auf der Hand: Darwins "gefährliche Idee" hat das religiöse Weltbild stärker ins Wanken gebracht als jede andere wissenschaftliche Theorie zuvor. Und dies wohlgemerkt, obwohl bislang nur einzelne Bruchstucke dieser "gefährlichen Idee" ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen sind. Eine Verarbeitung der zahlreichen weiterführenden Implikationen der Evolutionstheorie würde mit Sicherheit eine noch tiefgreifendere, noch radikalere Transformation der bestehenden Menschen- und Weltbilder erzwingen.

Sollte es dazu kommen, wird auch so manches humanistisch- freidenkerisches Ideengebäude dem Aufprall der "evolutionstheoretischen Entzauberungswelle" nicht standhalten können. Das klingt nach Katastrophe, ist aber nur halb so schlimm: Denn die "humanistische Kernbotschaft" würde selbst unter einem gewaltigen darwinistischen Bildungs-Tsunami nicht zusammenbrechen.

Im Gegenteil: Während die Religionen im Falle einer signifikanten Anhebung des biologischen Bildungspegels intellektuell gänzlich abtauchen müssten - schon jetzt steht ihnen in dieser Hinsicht das Wasser bis zum Hals -, würde der Humanismus eine konsequente Integration evolutionärer Erkenntnisse nicht nur verkraften, sondern im besten Falle ideologisch gereinigt und weltanschaulich gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgehen ...

Zur Herangehensweise: Ich werde im ersten Teil meiner Ausführungen in aller gebotenen Kürze die Geschichte der Evolutionstheorie skizzieren, wobei ich insbesondere auf die in manchen Gruppen stark angefeindete Soziobiologie eingehen werde, die die evolutionstheoretische Debatte in jüngster Zeit stark befruchtet hat.

Im zweiten Teil werde ich mich mit den biologistischen Irrwegen und Missverständnissen beschäftigen, die die Evolutionstheorie seit jeher begleiten.

Im dritten Teil werde ich versuchen, die Idee einer "Einheit des Wissens" darzustellen, welche meines Erachtens nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn wir künftig sowohl "biologistische" als auch "kulturistisehe" Argumentationsmuster konsequenter vermeiden - eine theoretische Anforderung, der sich der "evolutionäre Humanismus" in besonderer Weise stellt.

Vom "Kampf ums Dasein" zum "sexy Handicap": Eine kurze Geschichte der Evolutionstheorie

Die erste Phase der Evolutionstheorie: Lamarckismus

Am Anfang der Geschichte der Evolutionstheorie steht nicht, wie mancher vielleicht vermuten wird, Charles Darwin, auch nicht Alfred Russell Wallace, der etwa zeitgleich mit Darwin die Grundprinzipien der Evolution entdeckte [2], sondern der französische Zoologe Jean- Baptiste dc Lamarck. In seinem 1809 erschienenem Werk Philosophie zoologique [3] legte Lamarck erstmals stimmige Argumente für die These vor, dass die Arten keineswegs konstant, sondern in stetem Wandel begriffen sind und dass alle lebenden Spezies von Urformen abstammen, die sich vor langer Zeit entwickelt hatten.

Lamarcks Problem war, dass er die Dynamik dieses evolutionären Prozesses rational nicht hinreichend erklären und schon gar nicht empirisch untermauern konnte. Deshalb griff er auf zwei spekulative Ideen zurück, die sich in der Folgezeit als überaus problematisch erweisen sollten, nämlich erstens die teleologische Vorstellung, den Lebewesen wohne ein "Vervollkommnungsdrang" inne, der sie motiviere, sich in Richtung einer steten Verbesserung hin zu entwickeln, und zweitens die Idee, dass individuell erworbene Eigenschaften in einem starken Maße an nachfolgende Generationen vererbt werden könnten. Lamarck verdeutlichte sein Konzept u.a. am Beispiel der Giraffe, die sich seiner Meinung nach aus einer kurzhalsigeren Urform heraus entwickelt habe. Da Lamarck davon ausging, dass der häufige Gebrauch eines Organs dieses stärke und diese Errungenschaft auch an die nachkommenden Generationen weitergegeben werden könne, lautete seine Erklärung folgendermaßen: Dadurch, dass sich die kurzhalsigen Vorfahren der heutigen Giraffen nach immer höheren Asten gestreckt hätten, seien entsprechende Muskel- und Knochenpartien fortwährend gestärkt worden, so dass über viele Generationen hinweg die Hälse dieser Tiere immer länger wurden.

Vor allem aufgrund der Ergebnisse der Molekularbiologie, die zeigten, dass sich individuelle Lebenserfahrungen nicht im genetischen Code widerspiegeln und somit auch nicht vererbt werden können, gilt diese Konzeption des Lamarckismus als widerlegt. [4] Festzustellen ist auch, dass der Lamarckschen Abstammungslehre einige zentrale Bausteine fehlten, v.a. die Selektionstheorie, die eine valide Evolutionstheorie dringend benötigt.


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Die zweite Phase: Klassischer Darwinismus

1859 erschien Darwins Buch Über die Entstehung der Arten, zweifellos eines der bedeutendsten Werke der Wissenschaftsgeschichte. Die Grundidee der "natürlichen Zuchtwahl", die Darwin beschrieb, war denkbar einfach: Da Lebewesen mehr Nachkommen produzieren, als unter dem Diktat begrenzter Ressourcen überleben können, kommt es in der Natur unweigerlich zu einem "Kampf ums Dasein", aus dem nur die Individuen erfolgreich hervorgehen, die an die vorgefundenen Lebensbedingungen am besten angepasst sind. Über viele Generationen führt diese natürliche Zuchtwahl, der keinerlei höhere Absicht zugrunde liegt, sondern vielmehr ein Produkt des blinden Waltens von Zufall und Notwendigkeit ist, zu einer allmählichen Veränderung der Arten.

Mit dieser einfachen Formel, die er anhand unzähliger empirischer Beobachtungen belegte, erschütterte Darwin das traditionelle Weltbild bis ins Mark. Es bedurfte eben keiner göttlichen Absicht, auch keines Lamarckschen Vervollkommnungsdrangs, um die Mannigfaltigkeit des Lebendigen - und damit auch den Menschen - hervorzubringen. Dies alles ließ sich auf ein sinnblindes, natürliches Selektionsprinzip zurückführen, das aufgrund der unterschiedlichen Fortpflanzungsfähigkeit der Individuen bestimmte Eigenschaften förderte und andere eliminierte. Darwin selbst fasste diese ernüchternde Erkenntnis wie folgt zusammen: "So geht aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod unmittelbar die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen, die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Thiere." [5]

Dass Darwin mit den "höheren und vollkommeneren Thieren" gerade auch Homo sapiens meinte, war Eingeweihten sofort klar. Darwins wichtigste Mitstreiter Thomas Huxley und Ernst Haeckel ließen keinen Zweifel daran, dass auch die Entstehung des modernen Menschen evolutionstheoretisch gedeutet werden müsste [6], er selbst wartete - wohl auch aus Rücksicht auf seine christlich geprägte Gattin -immerhin zwölf Jahre, bis er mit Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl sein zweites evolutionstheoretisches Hauptwerk veröffentlichte.

Mit diesem Buch, in dem er den Frevel beging, auch die "höheren geistigen Eigenschaften" des Menschen konsequent über evolutionäre Prinzipien zu erklären, schuf Darwin nicht nur ein Standardwerk der wissenschaftlichen Anthropologie, er legte auch die Fundamente für die weit später erst sich entwickelnden Forschungsrichtungen evolutionäre Erkenntnistheorie, moderne Ethologie (Tierverhaltensforschung) sowie Evolutionspsychologie.

Indem Darwin bereits im Titel auf die geschlechtliche Zuchtwahl, also das Prinzip der sexuellen Selektion hinwies, machte er klar, dass das Überleben des Erbmaterials eines Individuums in den nachfolgenden Generationen keineswegs allein davon abhängig ist, ob es sich gegen Fressfeinde durchsetzen oder Feinden entfliehen kann. Mindestens ebenso bedeutsam ist es, ob das paarungsbereite Individuum potentiellen Sexualpartnern attraktiv erscheint. Damit wurde der "Kampf ums Dasein" gewissermaßen um den "Kampf der Geschlechter" ergänzt. [7]

Darwin erkannte, dass nur das Prinzip der sexuellen Selektion erklären konnte, warum sich Pfauenmännchen mit prächtigen Federn schmücken, obwohl dies wertvolle Ressourcen verschlingt und auch bei der Flucht vor Feinden überaus hinderlich ist. Der hier aufscheinende Gegensatz zwischen den Prinzipien der sexuellen Selektion (also dem "genetischen Überleben der Attraktivsten") und der natürlichen Selektion (dem "genetischen Überleben der Bestangepassten") sollte einigen Generationen von Evolutionstheoretikern noch arge Kopfschmerzen bereiten.

Als Charles Darwin am 19. April 1882 starb, war die von ihm maßgeblich geprägte Evolutionstheorie im Bereich der Naturwissenschaften bereits weitgehend anerkannt. Dennoch wies die Theorie zu diesem Zeitpunkt noch zahlreiche Lücken und Irrtümer auf. Zwar hatte Darwin mit der Theorie der natürlichen und sexuellen Selektion einen Mechanismus entdeckt, der ohne den Lamarckschen Vervollkommnungsdrang auskam, doch an dem Grundprinzip eines zwar unbeabsichtigten, aber dennoch realen Fortschritts in der Evolution hielt Darwin ebenso fest wie an Lamarcks Idee einer Vererbung erworbener Eigenschaften.


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Die dritte Phase: Neodarwinismus und Synthetische
Evolutionstheorie

Die These von der Vererbung erworbener Eigenschaften wurde Ende des 19. Jahrhunderts erstmals durch den deutschen Biologen August Weismann anhand zahlreicher Versuche empirisch widerlegt. Mit ihm beginnt die Phase des "Neodarwinismus", die vor allem durch die Integration der Erkenntnisse der Genetik in die Evolutionstheorie gekennzeichnet ist. [8]

Weismann war es auch, der erkannte, dass die genetische Rekombination, also die Durchmischung väterlicher und mütterlicher Erbanlagen während der Fortpflanzung, eine der wichtigsten Quellen für die Entstehung von Variabilität ist, d.h. für die Ausprägung unterschiedlicher Eigenschaften bei zweigeschlechtlich entstandenen Individuen.

Weismanns Arbeiten bildeten später, in den 1930er bis 1950er Jahren, die Grundlage für die Entwicklung der "Synthetischen Evolutionstheorie", die maßgeblich durch Julian Huxley, dem Enkel des Darwin-Mitstreiters Thomas Huxley, Theodosius Dobzhansky und Ernst Mayr geprägt wurde. Mit Hilfe der "Synthetischen Evolutionstheorie", deren Name von Julian Huxleys Buch Evolution: The modern Synthesis (1942) herrührte, wurde eine Vereinheitlichung der Evolutionstheorie erreicht.

Durch den Einbezug vieler wissenschaftlicher Teildisziplinen entwickelten Huxley und Kollegen ein großes einheitliches Theoriegebäude, das im Grunde bis zum heutigen Tag bestehen geblieben ist. Wenn wir heute von der modernen Evolutionstheorie sprechen, so beziehen wir uns in der Regel weniger auf die Theorie Darwins als auf die Ergebnisse der Synthetischen Evolutionisten in der Mitte des 20. Jahrhunderts. [9] Doch auch mit der Synthetischen Evolutionstheorie, die durch die Entdeckung der DNA durch Watson und Crick 1953 bestätigt wurde, ist die Evolution der Evolutionstheorie nicht abgeschlossen. In den 1970er Jahren trat die Evolutionstheorie in eine neue Phase.

Maßgeblich daran beteiligt war der Zoologe Edward O. Wilson, der 1975 sein monumentales Buch Sociobiology: The New Synthesis veröffentlichte. Die Reminiszenz an Huxleys Grundlagenwerk von 1942 war sicherlich alles andere als ein Zufall. Wilson war von Anfang an fest davon überzeugt, dass die Soziobiologie für die Weiterentwicklung der Evolutionstheorie ähnlich bedeutsam sei wie Huxleys historische Synthese - und er sollte damit durchaus Recht behalten.

Die vierte Phase: Neue Synthetische Evolutionstheorie / Soziobiologie

Das besondere Kennzeichen der Soziobiologie ist es, dass sie das Verhalten von Lebewesen (Menschen und anderen Tieren) nicht nur in Gruppenzusammenhängen untersucht (daher der Begriff Soziobiologie), sondern dass sie diese Beobachtungen konsequent evolutionsbiologisch auf der Grundlage der modernen Genetik, der Ökologie und der Populationsbiologie analysiert.

Während klassische Verhaltensforscher (Ethologen) wie Konrad Lorenz das alt-ruistische Verhalten von Lebewesen nur durch einen Rückgriff auf idealistische Spekulationen, nämlich die Unterstellung eines angeborenen "Arterhaltungstriebes", "erklären" konnten [10], können Soziobiologen in diesem Zusammenhang auf ein empirisch überprüfbares, naturalistisches Konzept verweisen: das Prinzip Eigennutz. Der englische Biologe William Hamilton hatte das Prinzip des genetischen Eigennutzes, das Dawkins später mit Hilfe der Metapher des "egoistischen Gens" popularisierte [11], schon in den 1960er Jahren beschrieben [12] und dabei eine Formel entwickelt, die die Wahrscheinlichkeit altruistischen Verhaltens in Abhängigkeit zum Verwandtschaftsgrad des Nutznießers definierte. Die "Hamilton- Ungleichung", die durch Tierversuche und -beobachtungen immer wieder empirisch gestützt wurde, lautet: K < rN.

"Altruistisch" verhält sich ein Individuum nach der Hamilton- Ungleichung immer dann, wenn die Kosten (K) eines Verhaltens für den Altruisten geringer sind, als der Nutzen (N) des Bevorteilten, wobei dieser Nutzen gewichtet wird mit dem Verwandtschaftskoeffizienten (r) zwischen Vorteilsgeber und Vorteilsnehmer. [13] Klingt kompliziert, ist aber eigentlich recht einfach. Stephen J. Gould, der zwar einige Fehlinterpretationen der Soziobiologen harsch kritisierte [14], aber am evolutionären Eigennutzprinzip selbstverständlich festhielt, verdeutlichte das Konzept der genetischeigennützigen, nur scheinbar altruistischen Verwandtenselektion folgendermaßen:

"Meine Schwester hat die Hälfte der Gene mit mir gemeinsam, und das bedeutet nach darwinistischer Rechnung, dass sie die Hälfte von mir ist. Nun nehme ich an, ich gehe mit drei Schwestern die Straße entlang. Es nähert sich ein Monstrum mit eindeutig mörderischer Absicht. Meine Schwestern sehen es nicht. Ich habe nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich gehe auf das Ungeheuer zu, unter Ausstoßung von Verbalinjurien, wodurch ich mein eigenes Schicksal besiegele; oder ich verstecke mich und schaue zu, wie sich das Ungeheuer über meine Schwestern hermacht. Was sollte ich als geübter Spieler des Darwinschen Spiels tun?

Die Antwort muss sein: weitergehen und schimpfen - denn dann habe nur ich mich selbst verloren, während meine drei Schwestern mich anderthalbfach repräsentieren. Es ist besser, wenn sie weiterleben und 150 Prozent meiner Gene fortpflanzen. Mein scheinbar altruistischer Akt ist genetisch 'selbstsüchtig', denn er maximiert den Betrag meiner Gene in der nächsten Generation." [15]

Natürlich ist dieses Beispiel simplifizierend, wie Gould selbst zugibt, aber es verdeutlicht sehr schön den eigennützigen Charakter altruistischer Aktionen im Tierreich. Allerdings gibt es neben der Verwandtenselektion, die durch die Hamilton-Ungleichung beschrieben wird, noch viele weitere Spielarten von genetischem Eigennutz.

Auch die verschiedenen Formen von kooperativ-altruistischem Verhalten, das sozial lebende Tiere gegenüber nicht direkt verwandten Artgenossen zeigen, lassen sich über das Prinzip Eigennutz gut erklären. Es ist nämlich für das Individuum auf lange Sicht gewinnbringender, sich kooperativ nach dem Fairnessprinzip ("Wie du mir, so ich dir") zu verhalten, d.h. gewisse Ressourcen mit anderen zu teilen, als Kooperationspartner rücksichtslos zu übervorteilen. [16] Warum? Weil Individuen, die sich stets unkooperativ verhalten und sich nur auf den kurzfristigen Gewinn hinorientieren, sozial schnell isoliert werden und am Ende schlechter dastehen als ihre kooperationsbereiten Artgenossen - ein deutliches Zeichen für den Selektionsvorteil kooperativen Verhaltens.

Selbstredend kann die Soziobiologie auch das in der Natur immer wieder beobachtbare rücksichtslose Durchsetzen eigener Interessen auf Kosten Anderer besser erklären als die klassische Verhaltensforschung. Wenn ein Löwe, der ein Rudel übernimmt, alle Jungtiere tötet, so steht dies natürlich im diametralen Widerspruch zur klassischen Vorstellung, Tiere agierten unbewusst im Sinne der Arterhaltung und verfügten über eine angeborene Tötungshemmung gegenüber Individuen der eigenen Spezies.

Aus der Perspektive des genetischen Eigennutzes ist dieses uns grausam erscheinende Verhalten allerdings leicht nachvollziehbar. Denn durch den Infantizid gelingt es dem Löwen, die eigenen Gene in der nachkommenden Generation besser zu verbreiten, da die Löwinnen nach der Tötung ihres Nachwuchses gleich wieder fruchtbar werden. [17]

Die Soziobiologie ist auch in der Lage, das seit Darwin virulente Problem des scheinbaren Widerspruchs von natürlicher und sexueller Selektion zu lösen. Warum Pfauenweibchen ausgerechnet auf Männchen mit prächtigem Federkleid stehen, ist unter soziobiologischer Perspektive völlig einsichtig. Es hat sich nämlich gezeigt, dass nur besonders gesunde Männchen sich den Luxus, das sexy Handicap, eines prächtigen Federkleids leisten können. Um den Fortbestand der eigenen Gene in den nächsten Generationen zu sichern, ist das Weibchen also gut beraten, sich den stolzesten Pfau vor Ort zu angeln, so dass dessen Gene dem eigenen Nachwuchs zugute kommen. [18]

Selbstverständlich wäre zu den evolutionstheoretischen Implikationen der Soziobiologie weit mehr zu sagen, aber dies würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen. [19] Halten wir fest: Die Soziobiologie ist mittlerweile zu einem integralen Bestandteil der Evolutionstheorie geworden. Sie hat zu zahlreichen fruchtbaren Forschungsansätzen geführt und ihre grundlegenden Hypothesen wurden immer wieder auf eindrucksvolle Weise empirisch bestätigt. An ihrem prinzipiellen wissenschaftlichen Wert - nicht an einzelnen Detailaussagen - kann kaum noch ein Zweifel bestehen.

Der besondere Reiz der Soziobiologie bzw. der neo-neodarwinistischen Theorie besteht sicherlich in ihrer wissenschaftlichen Eleganz. Indem sie den evolutionären Prozess konsequent auf die Wirkungen des Eigennutzprinzips zurückführt, kann sie auf spekulative Annahmen (wie das biologisch unbegründete Konzept der Arterhaltung, aber auch die empirisch kaum haltbare Idee eines evolutionären Fortschrittsautomatismus [20]) verzichten. Insofern stellt die Soziobiologie die bislang konsequenteste Fortführung des Darwinschen Gedankengebäudes dar, weshalb es durchaus zulässig erscheint, sie mit Wilson als die "neue evolutionäre Synthese" zu begreifen.


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Tabelle: Die vier Stadien der Evolutionstheorie im Überblick

1. Phase

Frühe Evolutionstheorie Lamarckismus

Jean-Baptiste de Lamarck

- Wandlung der Arten durch Vererbung erworbener Eigenschaften - Inhärenter Vervollkommnungsdrang

2. Phase

Klassischer Darwinismus

Charles Darwin
Thomas Huxley
Alfred R. Wallace
Ernst Haeckel

- Natürliche und sexuelle Selektion
- Zufall und Notwendigkeit
- Variabilität aufgrund von Mutationen und Vererbung
erworbener Eigenschaften

3. Phase

Neodarwinismus/Synthetische Evolutionstheorie

August Weismann
Julian Huxley
Theodosius Dobzhansky
Ernst Mayr

- Vereinheitlichung der Theorie unter besonderer
Berücksichtigung der Ergebnisse der modernen Genetik
- Variabilität aufgrund der Rekombination des
Erbmaterials und Mutationen

4. Phase

Neo-Neodarwinismus/Neue Synthetische Evolutionstheorie/Soziobiologie

William Hamilton
Edward O. Wilson
Richard Dawkins
Stephen J. Gould
Wolfgang Wickler
Christian Vogel
Franz Wuketits
Eckard Voland
Volker Sommer
etc.

- Weitere Vereinheitlichung der Theorie durch die konsequente Berücksichtigung des Eigennutzprinzips - Spieltheoretische Erklärung des Altruismus - Erklärung der Prinzipien der sexuellen Selektion - Widerlegung des Konzepts der Arterhaltung - Aufhebung der Idee des evolutionären Fortschrittsautomatismus


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Irrwege, Missverständnisse und Katastrophen: Evolutionstheorie und der Fluch des Biologismus

Theoretischer und normativer Biologismus

Große Ideen laden, wie wir aus bitterer Erfahrung wissen, leider allzu häufig zu großem Missbrauch ein. Darwins Evolutionstheorie bildet in dieser Hinsicht wahrlich keine Ausnahme. Ich werde versuchen, in diesem Kapitel die fatalen Irrwege und Missverständnisse zu skizzieren, die die Evolutionstheorie in ihrer Geschichte begleiteten und die auch heute noch Nachwirkungen zeigen. Fassen möchte ich diese Irrwege und Missverständnisse unter dem Stichwort "Biologismus", wobei ich zwischen einem theoretischen und einem normativen Biologismus unterscheide.

Zunächst eine kurze Erläuterung der Begriffe: Der Begriff "theoretischer Biologismus" kennzeichnet all jene Weltdeutungsmuster, die menschliche Verhaltensweisen oder gesellschaftliche Zusammenhänge wesentlich über biologische Gesetzmäßigkeiten zu erklären versuchen, ohne dabei die Besonderheiten der menschlichen Spezies (insbesondere die Bedeutung kultureller Faktoren) in angemessener Weise zu berücksichtigen. In Abgrenzung dazu umfasst der Begriff "normativer Biologismus" all jene Ideologien, die aus der Beschreibung biologischer Ist-Zustände unreflektiert moralische und / oder politische Sollenssätze ableiten.

Theoretischer und normativer Biologismus müssen nicht unbedingt "Hand in Hand" gehen, sind jedoch in der Vergangenheit meist als "Kombipack" aufgetreten, wie die nachfolgende Analyse der normativen Biologismen Sozialdarwinismus, Rassismus und Eugenik zeigen wird.

"Das Recht des Stärkeren": Sozialdarwinismus

Der Sozialdarwinismus ist eine Form des normativen Biologismus, die Darwins Lehre, insbesondere die Rede vom "Kampf ums Dasein" und dem "Überleben der Tauglichsten" als Aufforderung zum Aufbau entsprechender gesellschaftlicher Verhältnisse missversteht (Stichwort: "Recht des Stärkeren"). In der Vergangenheit galt es als besondere Spezialität der Sozialdarwinisten, die Bereitschaft zum Führen von Kriegen als "immanenten Wesenszug des Menschen" zu begreifen und die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern als "Kampf um Lebensraum" zu deuten. Gegenwärtig scheint ein anderes sozialdarwinistisches Argumentationsmuster bedeutsamer zu sein, nämlich die Rechtfertigung sozialer Ungleichheit unter Hinweis auf das universell gültige Eigennutzprinzip.

Was ist dem entgegenzuhalten? Zunächst einmal ist dieses Argument natürlich ethisch schlecht begründet, weil es - wie jede Form des normativen Biologismus auf einem "naturalistischen Fehlschluss" beruht. Aus einem unterstellten "empirischen Sein" lässt sich nun einmal kein "Seinsollen" ableiten. [21] Wir können unsere ethischen Werte daher nicht unreflektiert aus unserer Naturerkenntnis "herausdestillieren". Aber das ist noch nicht alles: Auch empirisch betrachtet, steht das sozialdarwinistische Argument auf überaus schwachen Füßen, denn es gründet nicht auf einer soliden wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern auf einer Fehlannahme des theoretischen Biologismus.

Eigennutz bedeutet nämlich in der Natur keineswegs bloß das Durchsetzen eigener Interessen auf Kosten anderer, sondern, wie wir bereits gesehen haben, auch die Bereitschaft zur Kooperation, zum Teilen von Ressourcen. Betrachten wir zudem noch die Besonderheiten der menschlichen Spezies, so wird das sozialdarwinistische Argument zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit vollends obsolet.

Wenn den Menschen nämlich eine Eigenschaft in ganz besonderer Weise auszeichnet, so ist es seine ausgeprägte Fähigkeit zur emotionalen Perspektivübernahme. Als Menschen können wir emotional nachempfinden, was andere in Notlagen durchmachen müssen, wir leiden, buchstäblich mit ihnen mit. Und dies hat weit reichende Konsequenzen: Wir müssen nämlich solidarisches Handeln aus Mitleid als ein für Menschen typisches, eigennütziges Verhaltensmuster interpretieren.

Wer dies bezweifelt, sollte sich vor Augen führen, dass bereits die Fähigkeit, mitleiden zu können, ein Produkt eigennütziger evolutionärer Überlebensstrategien ist. Die stete Zunahme des Gehirnwachstums, die im Verlauf der hominiden Entwicklung beobachtet werden kann, ist nämlich vor allem darauf zurückzuführen, dass die Träger komplexerer Gehirne wegen ihrer höheren sozialen Intelligenz Vorteile gegenüber einfacher strukturierten Artgenossen besaßen. Warum? Weil die Fähigkeit, die vielschichtigen Rollendifferenzierungen innerhalb einer sozialen Gruppe zu durchschauen und für sich nutzbar machen zu können, einen entscheidenden Überlebensvorteil bedeutete.

Das evolutionär gewachsene Empathievermögen war die Voraussetzung für erfolgreiches Lügen, Betrügen, Kooperieren und Intrigen-Spinnen und schuf - quasi als Nebenwirkung - die Basis für ein durch Mitleid (und Mitfreude!) motiviertes altruistisches Verhalten. [22]

Weiß man darum, welch große Bedeutung Mitleid und Mitfreude für das emotionale Erleben von Homo sapiens haben - ein Faktum, das sich hirnphysiologisch mittlerweile anhand der Aktivität von "Spiegelneuronen" [23] nachweisen lässt -, so wundert man sich nicht darüber, dass viele sozialwissenschaftliche Untersuchungen einen signifikanten Zusammenhang von sozialer Gleichheit und subjektivem Wohlempfinden festgestellt haben. [24]

Vor diesem Hintergrund kann man dem großen Evolutionsbiologen Stephen J. Gould nur zustimmen, wenn er schreibt, dass der Mensch das biologische Potential besitzt, ein besonders "kluges und freundliches Tier" [25] zu sein. Gewiss: Es müssen spezifische Bedingungen erfüllt sein, damit sich dieses Potential gesellschaftlich entfalten kann. Die konsequente Leugnung dieser Möglichkeit durch theoretische und normative Biologisten zeigt jedoch, wie undifferenziert - auch im biologischen Sinne ihr Bild von Homo sapiens ist.

Die "Hierarchie der Völker": Rassismus

Die Einteilung der Menschheit in vermeintlich "nieder- und höherwertige Rassen" ist ein uraltes Phänomen der Kulturgeschichte. Mit der frühen Evolutionstheorie schien endlich ein seriöser wissenschaftlicher Beleg für dieses Vorurteil vorzuliegen. Zwar machte die Theorie klar, dass auch alle "Kulturmenschen" von "primitiveren Urformen" abstammen, doch konnte zugleich der Eindruck entstehen, dass sich einige Teile der Menschheit evolutionär weiterentwickelt hätten, während andere auf einer früheren Stufe der Entwicklung stehen geblieben seien. [26]

Ernst Haeckels "Hierarchie der Völker", die wir vor allem in seinem 1905 erschienen Buch Die Lebenswunder finden können, ist ein typisches Beispiel dieser Denkungsart. Insbesondere vor dem Hintergrund des "arischen Rassenwahns", der nur wenige Jahrzehnte später die Welt erschütterte, erscheint uns Heutigen nicht nur die vermeintlich wissenschaftlich begründete Stufenleiter vom "niederen Wilden" zum "höheren Kulturvolk" erschreckend, sondern auch Haeckels unverblümt geäußerte Überzeugung, der "Lebenswert" der "niederen Wilden" gleiche etwa dem der "Menschenaffen". Von einer solchen Wertung ist es nur ein kleiner Schritt hin zur "Rassenhygiene-Politik" der Nationalsozialisten, die sich Haeckels Ansichten zum Thema gerne zu Nutzen machten. [27]

Dass der "Rassismus" mit einer humanistischen Ethik nicht zu vereinbaren ist, sollte evident sein. Er ist aber auch theoretisch (vor allem aufgrund der Ergebnisse der synthetischen, molekularbiologisch fundierten Evolutionstheorie, von der Haeckel selbstverständlich noch keine Ahnung haben konnte), nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es ist schlichtweg unsinnig, von bestimmten Körpereigenschaften wie der Hautfarbe auf andere Eigenschaften der Menschen (beispielsweise ihre intellektuellen Fähigkeiten) zu schließen.

Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen führten zu dem nicht unerwarteten Ergebnis, dass die genetischen und phänotypischen Unterschiede innerhalb einer "Rasse" größer sind als die Unterschiede zwischen den "Rassen". [28] Dies ist einer der Gründe dafür, warum in der modernen wissenschaftlichen Forschung [29] (und glücklicherweise auch in der politischen Debatte [30]) der Begriff "Rasse" mittlerweile aufgegeben wurde.

"Zucht und Ordnung": Klassische Eugenik und moderner "DNA- Fundamentalismus"

Der Begriff "Eugenik" wurde 1883 von Francis Galton, einem Vetter Darwins, geprägt. Galton verstand unter Eugenik ein angeblich wissenschaftlich begründetes, sozialpolitisches Konzept, das darauf abzielte, durch "gute Zucht" den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen in der Bevölkerung zu vergrößern bzw. den Anteil negativ bewerteter Erbanlagen zu vermindern. Dies sollte ermöglicht werden durch die Begünstigung der Fortpflanzung "Erbgesunder" (siehe beispielsweise das Projekt "Lebensborn" in der Nazizeit) sowie das konsequente Verhindern der Fortpflanzung "Erbkranker" (Programme zur Empfängnisverhütung, Sterilisation etc.).

Begründet wurde die Notwendigkeit einer solchen "künstlichen Zuchtwahl" durch das Wegfallen natürlicher Selektionsmechanismen im Zuge des Zivilisationsprozesses. Durch die damit angeblich verbundene "Verhaustierung des Menschen" fürchtete man, es drohe eine schleichende Schädigung des Genpools, der man nur mittels staatlicher Zucht-Maßnahmen ("Rassehygiene") entgegentreten könne.

Wie auch die anderen Formen des normativen Biologismus, ist das Konzept der Eugenik nicht nur ethisch zu kritisieren (beispielsweise im Hinblick auf die Verletzung menschlicher Selbstbestimmungsrechte), sondern auch theoretisch.

Eugenische Konzepte bedürfen nämlich zu ihrer theoretischen Begründung eines weit reichenden "genetischen Determinismus". Dieser ist zwar wissenschaftlich hinreichend widerlegt, findet aber trotzdem noch erstaunlich breite Zustimmung.

Ich möchte dies anhand zweier Beispiele demonstrieren, die zeigen, dass eugenische, genetisch-deterministische Ideen keineswegs nur in antihumanistischen Spektren auftreten.

Beispiel Nr. 1: Vor einigen Jahren hielt Peter Sloterdijk einen Vortrag mit dem Titel Regeln für den Menschenpark, der nach seiner Veröffentlichung für große Aufregung sorgte Sloterdijk deutete darin an dass man das "Humanisierungsproblem", nachdem Philosophie und Pädagogik versagt hätten, möglicherweise über gentechnische Verfahren lösen könne.

Der Aufschrei im Feuilleton war gewaltig. Erstaunlicherweise konnte man jedoch feststellen, dass in der kontroversen Debatte zu Sloterdijks Vortrag nur höchst unzureichend thematisiert wurde wie sehr im Hin und Her der Argumente die realen Dimensionen genetischer Steuerung verkannt wurden. Denn natürlich gibt es keine "Gene für Moral", natürlich wird das ethische Verhalten eines Menschen nicht direkt gesteuert durch die für jedes Individuum spezifische Anordnung von Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin, den vier Basen der DNA.

Um dies zu wissen, hätte man sich nun keineswegs mit dem komplizierten Fachgebiet der Genetik auseinandersetzen müssen, gesunder Menschenverstand hätte völlig genügt: So unterschieden sich beispielsweise die jungen Erwachsenen, die Ende der Sechziger Jahre gegen autoritäre Herrschaftsstrukturen rebellierten, für freiere Sexualität eintraten und eine kritische Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit einklagten, in genetischer Perspektive nicht dramatisch von ihren Eltern, die sich zu erschreckend großen Teilen zu Handlangern und Vollstreckern der Nazi-Barbarei gemacht hatten.

Der gleiche Genpool der in den Dreißiger Jahren zum Verbot der "entarteten Kunst" führte, sorgte in den Sechzigern für den Siegeszug der Mahlerschen Sinfonien und den millionenfachen Absatz von Rolling Stones-Alben.

Beispiel Nr. 2: Ein noch groteskeres Beispiel für den grassierenden "DNA-Fundamentalismus" lieferte Der Spiegel, als er im November 1998 mit einer Titelgeschichte aufwartete, die die Sinnlosigkeit aller erzieherischen Anstrengungen beweisen sollte. Anhand ausgewählter Ergebnisse der Zwillingsforschung glaubte man belegen zu können, dass genetische Prädispositionen - nicht erzieherische Eingriffe oder kulturelle Faktoren - letztlich verantwortlich dafür sind, was aus den Kindern später einmal wird.

Bei der journalistischen Aufarbeitung des Problems durfte das Beispiel der berühmten "Jim Twins" natürlich nicht fehlen. In der Tat sind die Übereinstimmungen dieser getrennt aufgewachsenen, eineiigen Zwillinge auf den ersten Blick verblüffend. Doch die (nicht nur vom Spiegel) nahe gelegte Annahme, es gäbe eine genetische Disposition für den Gebrauch der Zahnpasta "Vademecum" oder für die Wahl eines besonderen Urlaubsortes (einige der Gemeinsamkeiten der Jim Twins), ist schon reichlich grotesk.

Pikanterweise ging der vom Spiegel verbreitete DNA-Aberglaube jedoch noch weiter: So wurde sogar die Tatsache, dass die "Jim Twins" gleichnamige Ehefrauen geheiratet hatten (beide Brüder waren zweimal verheiratet, die Frauen trugen jeweils die Namen "Linda" und "Betty") auf das identische Erbgut der Zwillinge zurückgeführt! Meine Anfrage an den Spiegel, ob neuerdings in Redaktionskreisen LebenspartnerInnen nach dem Vornamen ausgewählt würden, blieb leider unbeantwortet ...

Sicherlich: Man muss den gegenwärtig grassierenden DNA- Fundamentalismus wohl als eine Gegenreaktion auf die insbesondere in den Siebziger Jahren unter SozialwissenschaftlerInnen kultivierte Biologiefeindlichkeit begreifen. Eine zeitgemäße Anthropologie wird hier genau hinschauen und biologische Fakten von ideologischen Mythen trennen müssen. Dies ist auch im Falle der Soziobiologie zwingend erforderlich. Die Gefahr, dass diese aufgrund ihrer Erfolge kulturelle Faktoren unzulässig ausblendet und das gut begründete Konzept des genetischen Eigennutzes mit der Chimäre des genetischen Determinismus verbindet, ist keineswegs zu unterschätzen. [31]

Wie schlecht das Konzept des genetischen Determinismus wissenschaftlich begründet ist, zeigen nicht zuletzt die Ergebnisse der modernen Molekularbiologie - und hier insbesondere die Erforschung der "epigenetischen" Prozesse. Mittlerweile wissen wir mehr über diese "Gen-Schalter", die verantwortlich dafür sind, dass bestimmte Teile des genetischen Erbcodes ausgelesen werden und andere wiederum nicht.

Anders als der genetische Code, der in der Regel ein Leben lang unverändert bleibt, sind die epigenetischen Programme im höchsten Maße variabel. Sie erfüllen gewissermaßen eine Mittlerfunktion zwischen genetischer Anlage und äußerer Umwelt, indem sie hochsensibel auf die Signale reagieren, die vom Gehirn in Folge von Umwelteinflüssen und individuellen Erfahrungen ausgesendet werden.

Nimmt man diese Forschungsergebnisse zur Kenntnis, so ist es evident, dass die deterministische Vorstellung, Gene würden unbeeindruckt von äußeren Faktoren das Leben bestimmen, falsch ist. Richtig ist vielmehr: Gene steuern nicht nur den Organismus, sondern werden gleichzeitig von diesem auf der Basis lebensweltlicher Erfahrungen (kulturelle Faktoren!) gesteuert. [32] Wir sollten daher das Konzept des genetischen Determinismus, welches den eugenischen, DNA- fundamentalistischen Vorstellungen zugrunde liegt, aufgeben und uns statt dessen mit der alternativen Idee der "biologischen Potentialität" anfreunden. [33]

Das heißt: Wir sollten davon ausgehen, dass uns das Erbgut (im Regelfall) einen recht breiten Rahmen vorgibt, innerhalb dessen wir uns als Individuen wie als Spezies kulturell bewegen können. Innerhalb dieses Rahmens existieren keine unaufhebbaren Verhaltensvorschriften, sondern allenfalls Verhaltensvorschläge, die bestimmte Verhaltensweisen nahelegen, jedoch keineswegs erzwingen, dass diese auch tatsächlich auftreten müssen. Außerhalb dieses Rahmens gibt es schlichtweg kein menschliches Verhalten. Selbstverständlich kann auch Homo sapiens Naturgesetze nicht überschreiten ...

Die korrekte Wahrnehmung des biologisch vorgegebenen Rahmens ist von entscheidender Bedeutung. Ignorieren wir die Breite dieses Rahmens, so laufen wir geradewegs in die Sackgasse des Biologismus, ignorieren wir hingegen, dass dieser biologische Rahmen überhaupt existiert, so landen wir ebenso schnell auf dem Abstellgleis des Kulturismus. Beide Denkungsarten verfehlen ihr Ziel und behindern, wie wir gleich noch sehen werden, den Weg zu einer "Einheit des Wissens".

Jenseits von Biologismus und Kulturismus. Evolutionärer Humanismus und die "Einheit des Wissens"

Als Edward O. Wilson 1998 das Buch Die Einheit des Wissens veröffentlichte, transportierte er - leider ohne in irgendeiner Form darauf hinzuweisen - Haeckels 1899 publizierte Gedanken zu einer einheitlichen, monistischen Philosophie in die Jetztzeit. In gewisser Weise kann man Wilsons Einheit des Wissens als eine Fortsetzung des Haeckelschen Welträtsel-Buchs begreifen.

Wie schon Haeckel am Ende des 19. Jahrhunderts, versuchte Wilson am Ende des 20. Jahrhunderts den falschen Dualismus von Natur und Kultur, Körper und Geist, Materie und Idee aufzuheben. Auch wenn man gewiss nicht alle Urteile Wilsons teilen muss - einige seiner Urteile zeigen deutlich, dass er sich mit den Problemen der Sozial- und Geisteswissenschaften nur sehr oberflächlich beschäftigt hat -, sehe ich kein einziges einleuchtendes Argument, das dem von Wilson vorgetragenen Projekt einer "Einheit des Wissens" prinzipiell entgegenstehen würde.

In der Tat scheint die Zeit gekommen zu sein, in der es möglich sein sollte, den tiefen Graben zu überwinden, der zwischen den Naturwissenschaften einerseits und den Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits entstanden ist. Durch die in den letzten Jahren vorangetriebene wissenschaftliche Entzauberung des Körper-Geist-Dualismus ist die entscheidende Barriere, die die Vereinheitlichung des Wissens traditionell behinderte, bereits aus dem Weg geräumt.

Was nun ansteht (und was beispielsweise auf dem Gebiet der Hirn- und Bewusstseinsforschung schon heute vorbildlich praktiziert wird), ist der Versuch eines gemeinsamen Brückenbaus über den Graben hinweg, an dem sich nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Sozial- und Geisteswissenschaftler mit ihrem jeweils spezifischen Know-how beteiligen sollten. Ich bin überzeugt, dass dieser interdisziplinäre Brückenbau gelingen kann, wenn wir uns künftig weder von biologistischen noch von kulturistischen Engführungen der Argumentation leiten lassen.

Da ich bereits auf den "Biologismus" eingegangen bin, will ich mich nachfolgend kurz mit dem oftmals verdrängten Phänomen des "Kulturismus" beschäftigen.

Ich fasse unter dem Begriff "theoretischer Kulturismus" all jene Weltdeutungsmuster, die menschliche Verhaltensweisen oder gesellschaftliche Zusammenhänge wesentlich über kulturelle Faktoren zu erklären versuchen, ohne dabei die fundamentalen biologischen Gesetzmäßigkeiten (die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie, der Genetik und Hirnforschung etc.) in angemessener Weise zu berücksichtigen.

Der "normativer Kulturismus" zeichnet sich dadurch aus, dass er aus solchen kulturistischen Interpretationen politische Sollenssätze ableitet. Normativ kulturistisch sind beispielsweise gesellschaftspolitische Programme, die den Menschen (als Spezies wie als Individuum) als "beliebig formbar" begreifen (also die biologischen Eigenarten unserer Spezies und auch die biologischen Unterschiede zwischen den Individuen, etwa unterschiedliche Begabungen, unzulässig ausblenden).

Normativer Kulturismus zeigt sich auch in der diffamierenden Abwehr gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen, die dem vorherrschenden weltanschaulichen Ideologiesystem widersprechen. (Beispiele für diese Denkungsart des "Es kann nicht sein, was nicht sein darf" sind u.a. die Ablehnung des kopernikanischen Weltbildes oder der Evolutionstheorie durch die Offenbarungsreligionen oder die zeitweise Verbannung der Relativitätstheorie aus dem Kanon der marxistisch- leninistischen Wissenschaften.)

Durchaus von kulturistischen Vorbehalten geprägt ist die (beispielsweise von Julian Nida-Rümelin vertretene [34]) Auffassung, Naturalismus und Humanismus stünden als unaufhebbare Gegensätze zueinander. In Wahrheit nämlich ist der Humanismus mit dem Naturalismus nicht nur "irgendwie" zu vereinbaren, der Humanismus ist vielmehr auf ein naturalistisches Menschen- und Weltbild dringend angewiesen, will er nicht am Ende zu einer rückständigen, gegenaufklärerischen Ideologie verkommen.

Kulturistische Vorurteile begleiten die Naturwissenschaften durch ihre ganze Geschichte hindurch. Sie begegnen uns aber auch heute noch, beispielsweise in der emphatischen Rede vom "freien Willen" zumindest wenn dieser im klassisch-idealistischen Sinne, d.h. als antinaturalistisches Konzept gedacht wird.

Die aktuelle Debatte um die "Freiheit des Denkens und Handelns" leidet m.E. vor allem unter einer unzureichenden Differenzierung der verschiedenen Freiheitsbegriffe, die gar nicht verstehen lässt, warum die Menschen einerseits mit großem Engagement für die "Freiheit" kämpften, andererseits jedoch nichts unversucht ließen, um der "Freiheit" wieder zu entfliehen. [35]

Ich bin überzeugt, dass diese Ambivalenz nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die fundamentalen Freiheitskonzepte "Willensfreiheit" und "Handlungsfreiheit" meist als "untrennbares siamesisches Zwillingspaar" begriffen wurden. Noch heute ist das Gerücht weit verbreitet, dass die Preisgabe der Willensfreiheitsidee auch die Selbstbestimmungsrechte und -fähigkeiten der Individuen untergraben würde. Dabei könnte gerade die Befreiung von der "illusorischen Freiheit" (Willensfreiheit) zu einer Stärkung "realer Freiheiten" (Handlungsfreiheiten) beitragen. Denn erst jenseits der psychopathogenen Trias von Schuld, Sühne und Sünde finden wir günstige Bedingungen vor, in denen sich wahre Humanität angstfrei entfalten kann. Wer mit Schopenhauer weiß, dass der Mensch unter günstigen Umständen "tun kann, was er will" (Handlungsfreiheit), aber "nicht wollen kann, was er will" (Willensfreiheit), verhält sich deshalb keineswegs verantwortungsloser als die Anhänger der Willensfreiheitsidee.

Im Gegenteil: Er kann sich seiner "objektiven Verantwortung" weit unbefangener stellen, da er von einer besonderen "Leichtigkeit des Seins" getragen wird - einer zwar ethischen, aber konsequent antimoralistischen Lebensweise, die, so Albert Einstein, "auch besonders dem Humor sein Recht lässt".

Mit anderen Worten: Der Abschied von der hartnäckigen Illusion, der Mensch könne sich mittels eines "freien Willens" über Naturgesetze erheben, ist heute nicht nur theoretisch zwingend geboten (keineswegs nur aufgrund der Ergebnisse der Hirnforschung!), auch lebenspraktische Gründe sprechen dafür, künftig auf das "Folter-Instrument" des freien Willens (Nietzsche) zu verzichten. [36]

Evolutionärer Humanismus

Damit komme ich zu meinem letzten Stichwort, dem "evolutionären Humanismus", schließlich zeichnet sich dieser exakt dadurch aus, dass er die angeblich diametralen Gegensätze Humanismus und Naturalismus miteinander versöhnt. [37] Geprägt wurde der Begriff "evolutionärer Humanismus" in den 1960er Jahren von Julian Huxley [38] - eben jenem Huxley, der, wie wir gesehen haben, für die Entwicklung der Synthetischen Evolutionstheorie im letzten Jahrhundert von maßgeblicher Bedeutung war.

Auch hier möchte ich eine Definition vorschlagen: Ich verstehe unter dem Begriff "evolutionärer Humanismus" eine postnationale, säkulare, kritisch-rationale Weltanschauung, die die erkenntnistheoretische Perspektive des Naturalismus mit dem ethisch-politischen Auftrag einer umfassenden Verbesserung der Lebensverhältnisse verbindet (etwa Etablierung von Chancengleichheit und Freiheit, Durchsetzung der Menschenrechte, Abbau von direkter, struktureller und kultureller Gewalt etc.). Wie man sieht, enthält der evolutionäre Humanismus sowohl eine theoretische als auch ein praktisch-normative Komponente. Insofern ist er nicht bloß Wissenschaft, sondern Weltanschauung, d.h. er geht über die bloße wissenschaftliche Beschreibung der Zustände hinaus - auch wenn er in seinen normativen Aussagen stets auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreift.

Da der evolutionäre Humanismus die biologische Spezies Homo sapiens als zufälliges, unbeabsichtigtes Produkt der natürlichen Evolution begreift, das sich nur graduell, nicht prinzipiell von anderen irdischen Lebensformen unterscheidet, wendet er sich entschieden gegen kulturistische, d.h. religiöse oder weltlich-idealistische Konzeptionen, die der Menschheit eine Sonderstellung im Kosmos einräumen, die ihr Eigenschaften zuschreiben, welche mit den Naturgesetzen nicht zu vereinbaren sind, die Moralkataloge aufstellen, die einer Primatenspezies nicht entsprechen, und / oder infolge ihrer anthropozentrischen Weltwahrnehmung die Interessen nichtmenschlicher Lebensformen (insbesondere die der höher entwickelten Tiere) nicht ausreichend berücksichtigen.

Ebenso deutlich wehrt sich der evolutionäre Humanismus allerdings auch gegen politische Strömungen, die die naturalistische Position zwar teilen, aber aus der Erkenntnis des in Natur und Kultur wirksamen Eigennutz- und Wettbewerbsprinzips sozialdarwinistische Modelle ableiten und somit die bahnbrechenden wissenschaftlichen Errungenschaften der Evolutionstheorie in den Dienst antihumanistischer Ideologien stellen.

Der letzte Punkt zeigt, dass sich der evolutionäre Humanismus sehr deutlich gegenüber dem normativen Biologismus abgrenzt. Wie aber steht es um den theoretischen Biologismus? Trotz gegenteiliger Behauptungen in diversen "linken Organen" [39], ist auch dieser mit dem evolutionären Humanismus nicht zu vereinbaren - schon allein deshalb nicht, weil eine biologistische Beschreibung wissenschaftlichen Kriterien heute nicht mehr genügen kann.

Pointiert formuliert: Biologismus ist Ausdruck "schlechter Biologie". Wer biologistisch argumentiert, argumentiert nur unvollkommen biologisch, da er verkennt, dass kulturelle Faktoren erwiesenermaßen (epigenetische Prozesse!) eine ungeheure Bedeutung für die Funktionsweise des menschlichen Organismus haben. Im Falle des Kulturismus verhält es sich ganz ähnlich:

Eine sozial- oder geisteswissenschaftliche Beschreibung menschlicher Eigenschaften oder Aktivitäten, die deren biologische Fundamente ignoriert, ist Ausdruck schlechter Sozial- oder Geisteswissenschaft. Wer kulturistisch argumentiert, kommt am Ende zu falschen Schlüssen, da er verkennt, dass die menschliche Kultur nichts weiter ist als eine spezifische Ausdrucksform der Natur. Unter der Perspektive des "vernetzten Wissen" wird deutlich, dass Biologismus und Kulturismus einander verstärkende Wahrnehmungsverzerrungen sind. Beide leiden unter dem gleichen Defizit, nämlich einer weitgehenden Ignoranz gegenüber der unaufhebbaren Verwobenheit von Natur und Kultur.

Indem der evolutionäre Humanismus sich deutlich jenseits von Biologismus und Kulturismus positioniert, stellt er sich entschieden hinter das Projekt einer "Einheit des Wissens". In gewisser Weise geht er über dieses ambitionierte wissenschaftlich-philosophische Projekt noch hinaus, denn er strebt neben einer Vereinheitlichung des Wissens zusätzlich eine Vernetzung (keine Gleichsetzung!) von wissenschaftlicher Theorie und ethisch-politischer Praxis an. Die moderne Synthese des "evolutionären Humanismus" erstreckt sich also nicht nur auf den Bereich des Denkens, sondern auch auf den Bereich des Handelns.

Ich gebe zu, dass dies reichlich unbescheiden klingen mag. Um diesem Eindruck zum Abschluss doch noch etwas entgegenzuwirken, seien einige relativierende Anmerkungen hinzugefügt:

Selbstverständlich (wer wollte dies bestreiten?) sind wir von einer "Einheit des Wissens" (geschweige denn: von einer "Einheit des Denkens und Handelns") noch immer meilenweit entfernt. Auch eine allseits befriedigende Lösung der "Welträtsel", die Haeckel im Übereifer bereits vor hundert Jahren entdeckt zu haben glaubte, ist noch nicht in Sicht. Wir wissen heute zwar vieles genauer, als es Haeckel Ende des 19. Jahrhunderts wissen konnte, und so manche Lösung scheint zumindest im Ansatz (wenn auch nicht im Detail) durchaus geglückt zu sein, doch gibt es zahlreiche Phänomene, vor denen wir immer noch ziemlich ratlos dastehen.

Ein gutes Beispiel hierfür ist Haeckels "drittes Welträtsel", die Entstehung des Lebens. Zwar können wir mittlerweile experimentell nachvollziehen, auf welche Weise vor Jahrmilliarden aus anorganischen Substanzen organische entstanden sind [40], doch wie sich aus diesen organischen Substanzen letztlich die ersten Lebensformen entwickelten und somit das "Prinzip Eigennutz" in die Welt Einzug hielt, ist noch weitgehend ungeklärt.

Will sagen: Trotz aller bedeutenden Erfolge steckt die Wissenschaft bei genauerer Betrachtung doch noch immer in den Kinderschuhen, viele Phänomene sind noch unerforscht und manches große Geheimnis werden wir wahrscheinlich niemals lüften können.

Doch sollten wir deshalb keineswegs verzagen und schon gar nicht die Leistungen vorangegangener Forschergenerationen gering schätzen. Fest steht: Ernst Haeckels "monistische Philosophie" [41] wies trotz ihrer zeitbedingten Fehler und auch trotz all der schrecklichen Katastrophen, die der normative Biologismus im 20. Jahrhundert auslösen sollte, in vielen Punkten sehr wohl in die richtige Richtung. Wir wären deshalb gut beraten, den 100. Geburtstag des Deutschen Monistenbundes, der den Hintergrund der hier vorgestellten Überlegungen bildet, zum Anlass zu nehmen, die vielfältigen produktiven Impulse, welche vom Monismus ausgingen, kritisch wieder aufzugreifen und für das 21. Jahrhundert fruchtbar zu machen.

Leider wirkte der Monismus nicht nur in progressiver (beispielsweise libertär-sozialistischer) Weise, sondern hatte auch unverkennbar reaktionäre (nationalistische, rassistische) Tendenzen. Zudem ist zu beachten, dass nur ein Teil des monistischen Weltbildes Haeckels wissenschaftlich begründet war. Gerade seine späteren Werke enthalten reichlich esoterisches Gedankengut.

In gewissem Sinne lässt sich das von der Giordano-Bruno- Stiftung verfolgte Projekt einer "Förderung des evolutionären Humanismus" als eine kritische Wiederaufnahme der monistischen Denktradition begreifen. Dass sich der Verfasser und auch die Stiftung dabei von allen biologistischen, nationalistischen, esoterischen Aspekten des Monismus in aller Deutlichkeit distanzieren, sollte, spätestens nach der Lektüre des vorliegenden Artikels klar geworden sein.

Es gilt, den Monismus sowohl von seinem biologistischen Ballast zu befreien als auch gegen kulturistische Ressentiments zu verteidigen. Dies wäre nicht nur ein wertvoller Beitrag zur Rehabilitierung einer einst höchst vitalen, durch die Nazityrannei abrupt abgewürgten Kulturströmung, sondern mehr noch: ein wichtiger Schritt hin zur "Einheit des Wissens" sowie zur Entwicklung einer soliden, philosophisch wie wissenschaftlichen tragfähigen Theorie des Humanismus.


*


Anmerkungen

1 Vgl. Haeckel, Ernst: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Bonn 1899. - Wilson, Edward O.: Die Einheit des Wissens. Berlin 1998.

2 Vgl. Wuketits, Franz M.: Darwin und der Darwinismus. München 2005, S.51ff.

3 Eine deutsche Ausgabe dieses Biologie-Klassikers erschien unlängst im Harrt Deutsch Verlag, Lamarck, Jean-Baptiste de: Zoologische Philosophie. Frankfurt a.M. 2002.

4 Zwar gibt es neuerdings empirische Befunde, die auf eine epigenetische Vererbung erworbener Eigenschaften schließen lassen, doch sind diese weder hinlänglich gesichert, noch könnte man über sie die Entstehung neuer Arten erklären.

5 Darwin, Charles: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein. Nach der letzten englischen Ausgabe wiederholt durchgesehen von J. Victor Carus, 9. Aufl., Stuttgart 1899, S.565.

6 Von besonderer Bedeutung ist hier Huxleys Buch Evidence as to Man's Place in Nature (1863), Deutsche Ausgabe: Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Stuttgart 1970. - Haeckel hatte sich ebenfalls bereits 1863 in Vorträgen eindeutig zum Thema geäußert. Seine Monographie Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen erschien jedoch erst 1874.

7 Vgl. das Vorwort von Josef H. Reichholf zu Darwin, Charles: Die Abstammung des Menschen. Frankfurt a.M. 2005.

8 Vgl. Kutschera, Ulrich: Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung. Berlin 2001, S.31f.

9 Vgl. Kutschera 2001, S.32ff.

10 Siehe beispielsweise Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse - Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien 1963.

11 Dawkins' Bestseller The Selfish Gene erschien erstmals 1976 und wurde 1989 noch einmal grundlegend überarbeitet. Die deutsche Ausgabe wurde im Rowohlt-Verlag publiziert.

12 Nicht ohne Grund zählt Hamiltons 1964 erschienener, zweiteiliger Beitrag The genetical evolution of social behavior im Journal for Theoretical Biology zu den meist zitierten Aufsätzen der gesamten biologischen Fachliteratur.

13 Vgl. Voland, Eckart: Grundriss der Soziobiologie. Heidelberg 2000, S.5f.

14 Vgl. Gould, Stephen J.: Darwin nach Darwin. Naturgeschichtliche Reflexionen. Frankfurt a.M. 1984, S.195ff.

15 Gould 1984, S.223.

16 Vgl. Sigmund, Karl: Spielpläne. Zufall, Chaos und die Strategien der Evolution. Hamburg 1999. - Axelrod, Robert: Die Evolution der Kooperation. München 1997.

17 Zum Thema "Infantizid" vgl. Voland 2000, S.59ff und 182ff.

18 Vgl. Uhl, Matthias; Voland, Eckart: Angeber haben mehr vom Leben. Heidelberg 2002.

19 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die entsprechende Literatur, vor allem Voland 2000, sowie (weniger ausführlich, aber als Einführung gut geeignet) Wuketits, Franz M.: Was ist Soziobiologie? München 2001.

20 Vgl. Gould: Stephen J.: Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution. Frankfurt a.M. 1998 sowie Wuketits, Franz M.: Naturkatastrophe Mensch. Evolution ohne Fortschritt. Düsseldorf 1998.

21 Vgl. Schmidt-Salomon, Michael: Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. Aschaffenburg 2005, S.93ff.

22 Nebenbei: Dass wir eher zu Mitleid als zu Mitfreude tendieren, ist ebenfalls über den Eigennutz begründet, weil, wie schon Ludwig Marcuse pointiert feststellte, "im Mit-Leid die Freude dabei ist, dass wir nur teilzunehmen brauchen; in der Mit-Freude hingegen das Leid, dass wir nur teilnehmen dürfen". (Marcuse, Ludwig: Argumente und Rezepte. Ein Wörterbuch für Zeitgenossen. Zürich 1973, S.84,)

23 Diese "Spiegelneuronen" werden bei der Beobachtung Anderer aktiv, sie simulieren gewissermaßen die hirnphysiologischen Vorgänge, die stattfinden würden, wenn das Individuum von der beobachteten Aktion selbst betroffen wäre. 1996 wurde die Existenz der Spiegelneuronen erstmalig von dem italienischen Hirnforscher Giacomo Rizzolatti bei Primaten nachgewiesen. Forscher von der University of California in Los Angeles belegten später deren Arbeitsweise auch im menschlichen Gehirn. Sie zeigten u.a. auf, dass sensorische Zellen im Gehirn, die auf Schmerzsignale reagieren, auch dann "feuerten", wenn Menschen bloß ansehen mussten, dass eine andere Person mit einer Nadel gepiekst wurde. Auf der Grundlage dieser Fakten hat der Neurowissenschaftler Vilayanur Ramachandran die Spiegelneuronen als "Empathie-Zellen" bezeichnet und ihre Existenz als wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung menschlicher Ethik und Kultur beschrieben (vgl. zu diesem Themenkomplex Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamb urg 2005).

24 Vgl. Klein, Stefan: Die Glücksformel - oder: Wie die guten Gefühle entstehen. Reinbek 2002, S.260 ff.

25 Gould 1984, S.220f.

26 Diese Vorstellungen können natürlich nur unter der Voraussetzung als theoretisch stimmig erscheinen, dass man von der Lamarckschen These der "Vererbung erworbener Eigenschaften" ausgeht. Denn nur dann wäre es theoretisch denkbar, dass sich die verschiedenen "Völker" in der verhältnismäßig kurzen Spanne der kulturellen Evolution in signifikanter Weise genetisch voneinander weg entwickelt hätten. Dieses Konstrukt wurde aber schon von den Verfechtern der Synthetischen Evolutionstheorie als grundlegend falsch abgewiesen.

27 Vgl. Wuketits, Franz M.: Eine kurze Kulturgeschichte der Biologie. Darmstadt 1998, S.114ff.

28 Vgl. Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. Birkhäuser, Basel 1983, Suhrkamp, Stuttgart 2002.

29 Vgl. Cavalli-Sforza, Luca und Francesco: Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage. München 1996.

30 Vgl. die "UNESCO-Erklärung gegen den 'Rasse'-Begriff" (verabschiedet im Vorfeld der UNESCO-Konferenz "Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung" 1995.)

31 Über die überspitzte Darstellung Robin Bakers (beispielsweise in Krieg der Spermien, Bergisch Gladbach 1999) mag man noch humorvoll hinwegsehen. Dies gilt jedoch nicht für die von konservativideologischen, mitunter offen rassistischen Vorurteilen getragenen Studien von Arthur Jensen oder Richard Herrnstein und Charles Murray (The Bell Curve), die u.a. von Stephen J. Gould und Richard Lewontin zu Recht scharf kritisiert wurden.

Allerdings: So berechtigt die Kritik an den konservativen Hardlinern Jensen & Co. auch ist, so wäre es doch unsinnig, sie auf die Soziobiologie auszudehnen, da diese sehr wohl mit dem Gouldschen Konzept einer "biologischen Potentialität" zu vereinbaren ist. Leider gab es in dieser Hinsicht (durchaus auch provoziert durch Lewontin und Gould) einige gravierende Missverständnisse.

32 Vgl. u.a. Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. München 2004.

33 Vgl. Gould 1984, S.211ff.

34 Vgl. Nida-Rümelin, Julian: Humanismus als Leitkultur. München 2006, S.30ff.

35 Vgl. hierzu Erich Fromms Klassiker Die Furcht vor der Freiheit.

36 Ich werde diese Argumente, die für die Frage des humanistischen Selbstbestimmungskonzepts von nicht geringer Bedeutung sind, zu einem späteren Zeitpunkt näher ausführen.

37 Vgl. Schmidt-Salomon 2005.

38 Huxley, Julian: Die Grundgedanken des evolutionären Humanismus. In: Huxley, Julian (Hg.): Der evolutionäre Humanismus. Zehn Essays über die Leitgedanken und Probleme. München 1964.

39 Manche Vertreter der "dogmatischen Linken" haben - durchaus nicht unerwartet - gegen das Manifest des evolutionären Humanismus den Biologismus-Vorwurf erhoben. Sie begingen dabei den Fehler, die berechtigte scharfe Kritik am Sozialdarwinismus bzw. an philosophischen Fehlinterpretationen der Soziobiologie in grotesker Weise zu übergeneralisieren.

In dieser Lesart musste der "evolutionäre Humanismus" zu einer "brutalen Herrschaftsideologie" mutieren. Offensichtlich genügten bei einigen "linken Kritikern" schon "verdächtige Stichworte" wie "Evolution", "Eigennutz" oder "Tierrechte" bzw. die Zitation "umstrittener Autoren" wie Richard Dawkins oder Peter Singer, um heftigste Aversionsreflexe auszulösen. Nach der Devise "Stimmung statt Argumente" verzichteten sie auf eine differenzierte Analyse, ja, sie unternahmen nicht einmal den Versuch, "Biologismus" theoretisch zu fassen und damit ihren Vorwurf zu begründen. Ich hoffe, dass die hier vorgelegten Anmerkungen zu Biologismus und Kulturismus zumindest von einigen dieser Kritiker wahrgenommen werden.

40 Von großer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die berühmten Experimente des amerikanischen Biochemikers Stanley L. Miller in den 1950er Jahren.

41 Vgl. Haeckel 1899.


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 19 - Herbst 2006, Seite 56-72
Hefte für Kultur und Weltanschauung
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den 17. Januar 2007