Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → HUMANISTISCHER V.D.

WISSENSCHAFT/016: Mann, Frau, Gehirn - Geschlechterdifferenz und Neurowissenschaft (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 93/2010 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Mann, Frau, Gehirn
Geschlechterdifferenz und Neurowissenschaft

Von Inge Hüsgen


Ein Wonneproppen ist er, der kleine Max: temperamentvoll und durchsetzungsstark - eben ein richtiger Junge. Fanden jedenfalls die Versuchspersonen, die das Baby anhand eines Fotos und des Vornamens charakterisieren sollten. Als typisches Mädchen kam dagegen die gleichaltrige "Lisa" bei ihnen weg: sanft und gefühlvoll. Erstaunlich, denn beide Male handelte es sich um dasselbe Babyfoto.


Forschungen der letzten Jahre stellen diese Position jedoch arg in Frage. Der Bochumer Biopsychologe Prof. Onur Güntürkün verwies in seinem Vortrag auf einen Versuch der Psychologinnen Gerianne M. Alexander und Melissa Hines, die junge Meerkatzen verschiedenen Geschlechts ihr Lieblingsspielzeug auswählen ließen. Genau wie bei Menschenkindern spielte auch der weibliche Affen-Nachwuchs am liebsten mit Puppen oder benutzte Kochtöpfe zum Sammeln von Objekten, während die jungen Männchen lieber mit Bällen und Spielzeugautos herumtollten. Das Resultat kulturell vermittelter Geschlechterrollen? Wohl kaum.


Running gag: Frauen können nicht einparken

Doch die "Alles-angeboren"-These ist in wissenschaftlicher Hinsicht nicht besser aufgestellt. Zwar erlebte sie in den letzten Jahren einen enormen Aufwind, wie der reißende Absatz der inzwischen vierbändigen Buchreihe von Allan und Barbara Pease ("Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" usw.) zeigt. Allerdings gehen die beiden Erfolgsautoren "recht frei mit wissenschaftlichen Ergebnissen um", wie es Symposiums-Organisationsleiterin Claudia Gorr formulierte. Sogar von richtiggehendem "Quatsch" spricht Prof. Claudia Quaiser-Pohl, beispielsweise wenn die Peases den Frauen insgesamt das Gehirnareal zum räumlichen Denken absprechen.

Sie berufen sich dabei auf die mentalen Rotationstests (MRT), bei denen es darum geht, dreidimensionale Figuren in der Vorstellung zu drehen. Anhand von Abbildungen aus verschiedenen Perspektiven müssen die Probanden entscheiden, ob es sich um die gleiche Figur handelt oder um eine andere. Dabei schneiden Männer tatsächlich im Großen und Ganzen besser ab, berichtete die Entwicklungspsychologin, ferner werden die Leistungen durch Sexualhormone beeinflusst, beispielsweise bei Frauen im Laufe des Zyklus und bei Menschen, die im Rahmen einer Geschlechtumwandlung über Monate einen Hormoncocktail schlucken.

Indes warnt Quaiser-Pohl davor, diese Mittelwerts- und Verteilungsunterschiede auf einzelne Individuen zu beziehen: "Es kann sein, das eine Frau beim mentalen Rotieren besser ist als ihr Mann." Zum Verwischen der Unterschiede tragen auch Erfahrungen sowie erlernte Lösungsstrategien bei, auf die wir bei vergleichbaren Aufgaben im Alltag zurückgreifen. In Studien mit Angehörigen der Volksgruppe Inuit zeigten sich übrigens keine Geschlechtsunterschiede im räumlichen Denken, ebensowenig bei Probanden aus afrikanischen Staaten, wo es Aufgabe der Frauen ist, auf weitem Weg Wasser zu holen.

Es spricht also vieles dafür, dass männliches wie weibliches Denken und Verhalten in engem, ja unauflöslichem Zusammenspiel von biologischen und kulturellen Faktoren entsteht. Welche Elemente nun auf Kultur, welche auf Natur zurückzuführen sind, das bringt Onur Güntürkün auf eine einfache Formel: "Wir sind zu 99 Prozent Kultur und zu 99 Prozent Biologie."


Inge Hüsgen ist Redaktionsleiterin der Zeitschrift "Skeptiker - Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken".

Weiteres Material zur Tagung:
www.turmdersinne.de  → Symposium


*


Quelle:
diesseits 4. Quartal, Nr. 93/2010, S. 27
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2011