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ETHIK/0002: Gottes Lamm an dürren Stätten (Ingolf Bossenz)


Gottes Lamm an dürren Stätten

Der Tod im Schlachthaus und das Fest der Auferstehung

Von Ingolf Bossenz


Was alle wissen, wird von allen
vergessen; und gäbe es keine Nacht,
wer wüsste noch, was Licht wäre!


(Friedrich Nietzsche)


Krise hin, Krise her, zu Ostern wird in Deutschland gebraten, geschmort und gegrillt, was Röhre und Rost hergeben. Das Ende der Fastenzeit spielt dabei in unserer säkularisierten Zeit eine eher untergeordnete Rolle. Nichtsdestotrotz sind die Essgewohnheiten an den christlichen Feiertagen im Grunde kaum mehr als die dürftig zivilisierte Fortführung barbarisch-heidnischer Opferriten.


Nehmen wir das Lamm, das in vielen Regionen Europas als das klassische Gericht zu Ostern gilt.

Agnus Dei - Lamm Gottes. So nannte Johannes der Täufer Jesus. Er tat das bereits mit Blick auf das Opfer, das Jesus für die Erlösung der Menschheit von Sünde und Gottferne bringen sollte. Die Auferstehung nach dem Tod in Unschuld - dafür steht das Lamm als Zeichen des Lebens und der weißen, wehrlosen Reinheit.

In Anknüpfung an die im Alten Testament eingeforderten Tieropfer war es in der Frühzeit des Christentums Brauch, zum Osterfest Lammfleisch unter den Altar zu legen. Es wurde dann als geweihte Speise am Tag der Auferstehung verzehrt. Die Jesus-Anhänger konnten so ihre archaischen Riten zumindest rudimentär in den neuen Kult integrieren.

2000 Jahre später haben diese Rudimente Ausmaße angenommen, denen nicht nur Lämmer, sondern auch Kaninchen, Hühner, Fische, Schweine, Rinder etc. in exzessiver Zahl zum »Opfer« fallen. Obwohl das alles mit Religion nichts mehr zu tun hat, trifft man allenthalben auf deren Spuren.

Als die Christenheit im Jahr 1865 Weihnachten feierte, machten die Vereinigten Staaten von Amerika der Welt eine der folgenreichsten Errungenschaften der Moderne zum Geschenk: die Fließbandschlachtung. Mit der Eröffnung der Union Stock Yards von Chicago begann die Ära einer in der Geschichte der Menschheit bis dahin ungekannten Effizienz im Umbringen und »Verwerten« sogenannter Nutztiere. In der Setzung dieser Zäsur ausgerechnet am Geburtstag des Heilands fanden sich zwei Aspekte, die den Stolz der abendländischen Zivilisation bildeten: Hatte diese ihren religiösen Gipfel im Christentum gefunden, so verkörperte sie ihre praktische Tüchtigkeit in billiger Fabrikware. Zu letzterer gehörten nun auch die Körperteile leidensfähiger Kreaturen. Später wendete Henry Ford die Technologie des revolutionären Verfahrens bei der Montage seiner Autos an.

Um den Zynismus komplett zu machen, prangt auf den Fahnen von Fleischer-Innungen bis heute das Christuslamm Agnus Dei. Gern beruft man sich dort auf altes Schriftgut. So auf ein Zunftlied, in dem es heißt, die Innung der Fleischer entspringe »aus dem Leviten-Orden, die da im alten Bund das Opfer-Vieh geschlacht't, so man auf dem Altar dem Höchsten dargebracht«. Das Bolzenschussgerät - ein sakrales Werkzeug?

Wie dieser »Altar« im Zeitalter der Massentötungen beschaffen ist, beschreibt eine Veterinärstudentin: »Mehr als die Hälfte des Praktikums ist vorüber, als ich endlich in die Tötungshalle gehe, um sagen zu können: 'Ich habe gesehen.' Hier schließt sich der Weg, der vorn an der Laderampe beginnt. Der kahle Gang, in den alle Pferche münden, verjüngt sich und führt durch eine Tür in einen kleinen Wartepferch für jeweils vier oder fünf Schweine. Sollte ich je den Begriff 'Angst' bildlich darstellen, ich würde die Schweine zeichnen, die sich hier gegen die hinter ihnen geschlossene Tür zusammendrängen, ich würde ihre Augen zeichnen. Augen, die ich niemals mehr vergessen kann. Augen, in die jeder sehen sollte, den es nach Fleisch verlangt.«

Doch der Appetit derer, die »es nach Fleisch verlangt«, lässt nicht nach. In Deutschland stieg die Fleisch-»Produktion« im vergangenen Jahr auf Rekordniveau. In den gewerblichen Schlachthöfen wurden 7,5 Millionen Tonnen Fleisch »erzeugt«, teilte das Statistische Bundesamt mit. Das waren 200 000 Tonnen mehr als im Jahr zuvor. Dafür mussten unter anderen 54,6 Millionen Schweine, 3,8 Millionen Rinder und Kälber, 1,1 Millionen Schafe sowie 29 000 Ziegen und Pferde ihr Leben lassen.

Während zwei Drittel der Deutschen einer Umfrage zufolge Haustiere für ehrlichere und zuverlässigere Freunde als Menschen halten, haben sie zugleich keine Probleme damit, sogenannte Nutztiere durchgedreht, zerhackt oder geschnetzelt zu verzehren. Das Dilemma, Tiere zu »lieben« und Tiere zu »opfern«, wird als solches gar nicht empfunden.

Tierliebe versus Tieropfer. Die Fleischindustrie trägt diesem anthropologischen Dilemma Rechnung, indem sie Massenhaltungsanlagen und Schlachthöfe »unsichtbar« macht, sie in Randgebieten und außerhalb von Bevölkerungszentren betreibt. Diese Verdrängungsstrategie ist existenziell für die Sicherung des Profits. Denn die »Verbraucher« sollen tunlichst nicht bei jedem Bissen daran erinnert werden, dass das Fleisch, dessen Verzehr »natürlich« sein soll, von einem Ort kommt, der keinen »natürlichen« Tod kennt.

»Es ist seltsam, dass so ein völliges Abschließen und Nichtwissen in einer offenen Gesellschaft möglich ist«, meint der österreichische Regisseur Nikolaus Geyrhalter, dessen Film »Unser täglich Brot« die Realität der Lebensmittelproduktion in einer schonungslosen Wahrhaftigkeit zeigt. Eigentlich ist es schier unglaublich, dass dieses »Abschließen und Nichtwissen« tatsächlich möglich sein soll angesichts einer veritablen Flut von Berichten und Informationen, die Print- und elektronische Medien und vor allem das Internet über die grauenvollen Zustände in den Tierfabriken zur Verfügung stellen.

Nichtwissen ist letztlich nur möglich durch Nichtwissenwollen. Dieser Mechanismus ist keineswegs neu. Friedrich Nietzsche hatte kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch im Jahr 1889 erwogen, ein Werk mit dem Titel »Philosophie des verbotenen Wissens« zu verfassen. Dabei hatte er nicht Wissen im Auge, dessen Verbreitung Autoritäten oder Herrschende zu unterbinden versuchen, sondern Wissen, vor dem sich die Mehrheit der Menschen selbst zu schützen trachtet, »weil das Übertreten dieses Verbotes tatsächlich die Vertreibung aus dem Paradies einer selbstillusionären Gewissheit bedeuten muss«, wie der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann schreibt. Zweifellos gehört das Wissen um das »Produkt Fleisch« dazu. Wer zu viel weiß, dem kann dieses Wissen nachhaltig den Appetit verderben. Hinzu kommt die Empathie, die Fähigkeit, sich in andere Wesen hineinzuversetzen. Eine natürliche Eigenschaft des Menschen, die immer wieder für innere Konflikte sorgt, wenn der Mensch konfrontiert wird oder sich selbst konfrontiert mit dem elenden Leben und Sterben der Kreaturen, deren traurige Teile auf seinem Teller liegen.

Die Reaktion ist Verdrängung. Von außen und von innen. Oder die »Vernunft« wird bemüht. Und die »Natur«. Es sei »vernünftig« und »natürlich«, Fleisch zu essen. Man habe schließlich »schon immer« Fleisch gegessen und werde das auch künftig tun. Man.

Was der Philosoph Martin Heidegger die »Herrschaft des Man« nannte, passt perfekt auf die moderne Schlachthauskultur. Das Gewissen, das für Heidegger eine zentrale Funktion beim Ausbruch aus dieser Herrschaft besitzt, wird durch die scheinbare Unanfechtbarkeit einer institutionellen Normalität eingeschläfert.

Die Wahrheit, die der griechische Philosoph Plutarch vor über 2000 Jahren formulierte, hat es auch in unserer abendländischen Hochkultur nicht geschafft, einen moralischen Maßstab zu setzen: »Für einen Bissen Fleisch nehmen wir einem Tier die Sonne und das Licht und das bisschen Leben und Zeit, an dem sich zu erfreuen seine Bestimmung gewesen wäre.«

Doch obwohl Fleischessen nicht als unmoralisch oder gar als »Sünde« gilt (auch die Kirchen haben die Tiere verraten), bricht sich das Unbewusste falschen Tuns bisweilen Bahn in die Publizität: Als die Leipziger Oper im vorigen Jahr in Richard Wagners »Fliegendem Holländer« per Video Schlachthofszenen einspielte, empörte sich das Publikum lautstark und es gab mehrere Strafanzeigen gegen das Theater. Ähnlicher Protest wäre vermutlich ausgeblieben, wenn Sequenzen von Kriegsschauplätzen eingespielt worden wären.

Dabei kann man davon ausgehen, dass die Zuschauer das Abschlachten von Menschen ebenso abscheulich finden wie das Niedermetzeln von Tieren. Nur: Während die Ablehnung des Krieges keinen Widerspruch zum normalen Leben darstellt, ist das Schlachthaus ein Teil davon. Da der Konflikt nicht gelöst wird, bleibt nur die Verdrängung oder - wie in diesem Fall - die Projektion.

»Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausfährt, so durchwandelt er dürre Stätten«, heißt es im Neuen Testament. Die Sentenz des Evangelisten Lukas klingt wie ein frühes Zeugnis der Psychoanalyse in Sachen verbotenes Wissen. Denn es sind in der Tat »dürre Stätten«, wo man die Wahrheit kennt, aber deren Darstellung anprangert.

Versuche, Albert Schweitzers Ethik der »Ehrfurcht vor dem Leben« und das mosaische Gebot »Du sollst nicht töten« zu einer universalen, alle Kreatur umfassenden Moral zu einen, münden oft in verzweifelte Provokation. Dazu zählt der Protest der Tierrechtsorganisation PETA gegen Massentierhaltung und -tötung im Jahr 2004 unter der Losung »Der Holocaust auf Ihrem Teller«. In der Klage der Führung des Zentralrates der Juden dagegen fällte das Bundesverfassungsgericht im vorigen Monat sein Urteil: Tierhaltung darf nicht mit dem Holocaust verglichen werden. Begründet wurde dies mit einer dadurch erfolgenden »Bagatellisierung und Banalisierung« des Massenmordes an den Juden sowie mit dem im Grundgesetz festgeschriebenen »kategorialen Unterschied« zwischen menschlichem Leben und den Belangen des Tierschutzes. Das Insistieren auf dem »kategorialen Unterschied« macht klar, dass ungeachtet der gefeierten Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz Hoffnungen fehl am Platze sind.

Abgesehen davon, dass es der jüdische Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer war, der den herausfordernden Satz »Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka« prägte: Plakativ-propagandistische Aktionen wie die von PETA bergen in der Tat die Gefahr der »Bagatellisierung und Banalisierung« gesellschaftlich-historischer Zusammenhänge. Denn die Ausformung des modernen strukturellen Mensch-Tier-Gewaltverhältnisses und die Vernichtung der Juden haben durchaus etwas miteinander zu tun. Der Historiker und Politikwissenschaftler Enzo Traverso verweist in seinem Essay »Moderne und Gewalt« auf einen maßgeblichen Aspekt zwischen der Einführung der Guillotine als dem »ersten Schritt hin zu einer Serialisierung der Praktiken des Tötens« und Auschwitz als dem »industriellen Epilog im Zeitalter des fordistischen Kapitalismus«: »Zwischen dem mechanischen Fallbeil, das nach 1789 für die Todesstrafe in Anwendung kam, und der industriellen Vernichtung von Millionen von menschlichen Wesen gibt es mehrere dazwischenliegende Etappen. Die wichtigste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war wahrscheinlich die Rationalisierung der Schlachthöfe. ... Die Tiere wurden nun nach durchrationalisierten Prozeduren am Fließband getötet: Sammeln in den Pferchen, Tötung, Ausweidung, Entsorgung der Abfälle.«

Traverso reiht das Schlachthaus in die Elemente ein, die »zuvor das gesellschaftliche Universum und die mentale Landschaft (schufen), in denen die 'Endlösung' erdacht und ins Werk gesetzt wurde«: die Guillotine, das Schlachthaus, die fordistische Fabrik, die rationelle Verwaltung ebenso wie der Rassismus, die Eugenik, die Kolonialmassaker und das Massensterben des Ersten Weltkrieges. Diese Elemente »haben für die technischen, ideologischen und kulturellen Vorbedingungen gesorgt, indem sie den anthropologischen Kontext entwickelt haben, in dem Auschwitz möglich geworden ist«.

Der jüdische Soziologe und Schriftsteller Siegfried Kracauer verwies in seiner »Theorie des Films« auf die technischen und methodischen Analogien zwischen Schlachthöfen und Todeslagern der Nazis. So verglich er Dokumentarfilme über NS-Lager mit dem Film »Le sang des bêtes« (Das Blut der Tiere) von Georges Franju.

Mit anderen Worten: Die Technologie der Massenschlachtung war eine (wohlgemerkt: EINE) Vorbedingung für die industriemäßige Ermordung von sechs Millionen Juden. Verbotenes Wissen?

Es geht hier nicht um zwingende Kausalität. Geschichte ist immer geprägt von Kontingenz, von zahllosen Möglichkeiten, ohne dass diese jemals zur Realität werden müssen. Beruhigend ist das nicht angesichts von allein im vorigen Jahr in deutschen Schlachthöfen »erzeugten« 7,5 Millionen Tonnen Fleisch - und angesichts der »dürren Stätten«, an denen dafür nach Rechtfertigung gesucht wird.


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Quelle:
Ingolf Bossenz, April 2009
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 11.04.2009


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2009