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POLITIK/0002: Europa und die Gottesfrage (Ingolf Bossenz)


Europa und die Gottesfrage

Von Ingolf Bossenz


Als Friedrich Nietzsche den Tod Gottes verkündete, benannte er auch die Täter: »Und wir haben ihn getötet.« Heute, knapp 130 Jahre später, scheint diese Untat erst in voller Dimension zu greifen. Europa, so konstatierte jetzt der katholische Theologe Walter Kardinal Kasper, sei das weltweite Schlusslicht in Sachen Religion und stehe vor der historisch einmaligen Situation, zu einer gänzlich religionslosen Gesellschaft ohne »Bindung an Gott oder Göttliches« zu werden.

Diese Einschätzung, die der Kurienkardinal in der Zeitschrift »Die politische Meinung« der Konrad-Adenauer-Stiftung traf, widerspricht offensichtlich den Ergebnissen der Studie »Religionsmonitor 2008«. Danach sind immerhin 74 Prozent aller Europäer in sieben untersuchten Ländern religiös. Doch auch Kasper konzedierte ja: »Religiöses und spirituelles Suchen hat zugenommen.« Was den Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen stört, ist die Tatsache, dass dieses Suchen nicht automatisch zum christlichen Glauben - mithin zur Kirchenmitgliedschaft - zurückführt, sondern »zu einer vagen, diffusen, frei florierenden Religiosität«. Eine »frei florierende Religiosität« ist natürlich unvereinbar mit den Dogmen, Vorschriften, Indoktrinationen der allein selig machenden Una Sancta Catholica, mit ihrem selbstherrlichen Anspruch »Extra ecclesiam nulla salus«, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gebe. Welche Blüten der »Einheits«-Wahn - sprich: das Machtkalkül - einer theistisch-religiösen Institution treiben kann, zeigt der aktuelle Skandal um die Rückholung sogenannter Traditionalisten, unter ihnen ein Holocaust-Leugner, in den Schoß der heiligen Mutter Kirche.

Als zentrale Strategie gegen die »Bastelreligiosität« empfiehlt Kardinal Kasper die Wiederbelebung Gottes, und zwar des konkreten, persönlichen. Nicht die »blasse Gottesidee von einem letzten, aber letztlich unfassbaren Horizont in oder hinter allen Dingen« sei zu propagieren, sondern der »lebendige Gott«, ein »menschenfreundlicher, barmherziger Gott«, »ein sympathischer Gott, ein Gott, der mitleidet«. Dass denkende Menschen mit einem solchen Märchen- und Bilderbuchgott immer weniger anfangen können, zeigt sich indes selbst innerhalb der beiden Großkirchen in Deutschland.

Bereits 1997 hatten bei einer Emnid-Umfrage 26 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder erklärt, nicht an »Gott« zu glauben; bei den Katholiken waren es 16 Prozent. Einer ALLBUS-Studie von 2002 zufolge glauben von den Protestanten gerade mal 23,3 Prozent an einen persönlichen Gott, bei den Katholiken sind es lediglich 35,5 Prozent. Die Vorstellung, Religiosität sei zwingend mit dem Glauben an einen persönlichen Gott verbunden, ist vor allem der jahrhundertelangen Deutungshoheit des Kirchenchristentums geschuldet. Betrachtet man indes - wie zum Beispiel der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek - Religion als »Vitalimpuls des Menschen« zur radikalen Sinnsuche, ist damit auch ein Humanismus oder Skeptizismus erfasst, der keine Antwort auf letzte Fragen findet. Gott ist dabei allerdings verzichtbar und mithin auch die angeblich zwischen IHM und den Menschen vermittelnde Priesterbürokratie. Insofern trifft der Titel von Kaspers Aufsatz »Die Gottesfrage als Zukunftsfrage« durchaus den Kern des Problems. Allerdings nicht - wie intendiert - mit Blick auf die Perspektiven Europas, sondern auf die der Großkirchen.


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Quelle:
Ingolf Bossenz, Februar 2009
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 30.01.2009


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2009